Ohne Vernunft

Am härtesten betroffen sind gemäßigte Muslime, die schon lange verwestlicht leben

Die Reinheit des Bildes des Propheten ist für ganz gewöhnliche Muslime enorm wichtig

AUS ISTANBUL DILEK ZAPTCIOGLU

„Niederträchtig und respektlos sind die Ungläubigen“, schimpfte gestern die radikal-islamistische türkische Tageszeitung Vakit, „wir Muslime werden es ihnen zeigen.“ Damit gehört sie zweifellos zu den Provokateuren des Mobs. Die weltweite Eskalation der Gewalt nach der Veröffentlichung der Mohammed-Karikaturen in westlichen Medien ist Furcht erregend: Ist das der von Samuel Huntington prophezeite Krieg der Zivilisationen? Ein Krieg der Bilder ist ohne Zweifel ausgebrochen. Vorsätzlich und dummdreist wird dieser Krieg herbeigeschrieben und herbeigezeichnet. Wer sich nämlich von der dänischen Offensive am härtesten betroffen fühlt, sind die gemäßigten Muslime, die schon seit Generationen „verwestlicht“ leben und die sich an Frieden und die Ideale der Französischen Revolution halten. Nicht die „Mullahs“ ärgern sich über die Karikaturen, für sie sind diese nur eine Bestätigung ihrer Hetze gegen den verdorbenen Westen. Welches Stück wird hier eigentlich aufgeführt, wer führt Regie?

Auch in der Türkei schauen die Intelligenz, die Meinungsmacher und die gemäßigten Volksmassen der Eskalation verständnislos zu. Ein Häufchen Hardliner verbrennt vor der dänischen Botschaft die Fahnen. Man sagt sich erschrocken: 11. September hin und her. Erst Afghanistan, dann Irak, jetzt der Iran. Und dazu der Angriff auf den Islam. Das alles kann kein Zufall sein. Hier wird der gedankliche und emotionale Rahmen einer weltweiten Spaltung geschaffen. Darüber freuen sich nur die Scharfmacher auf beiden Seiten: Die islamistischen Extremisten hier, die aufgeklärten Kriegstreiber im Westen.

Es sind nicht nur die arbeitslosen Underdogs in Ägypten oder in Palästina, die heute die Bildschirme bevölkern. Zorniger Pöbel ist überall leicht zu manipulieren. Gerade den Eliten in den muslimischen Gesellschaften entzieht man jetzt mit solchem Zündeln den Boden unter den Füßen. Die Reinheit des Bildes des Propheten ist für gewöhnliche Muslime enorm wichtig. So wie man kein Rindersteak bestellt, wenn man mit einem Hindu-Freund essen geht, trampelt man nicht mit den Füßen auf Mohammed. Man zeichnet ihn nicht als Bin Laden. So wie eine ägyptische Zeitung nicht Jesus mit schwerem Geschütz als Rambo im Irak zeichnen sollte.

Je mehr man sich von Washington, Kopenhagen und Berlin entfernt, desto stärker wird der Eindruck: Das ist kein Sandkastenspiel. Dieser Karikaturstreit ist nur die Vorbereitung zu einem realen Flächenbrand. Dem Westen mag die Tragweite der politischen Entwicklung nicht bewusst sein, aber in den muslimischen Ländern herrscht Alarmstimmung: Der Iran ist als nächstes dran! Deshalb liegen hier die Nerven blank. Denn Iran ist nicht Khomeini, sondern das Land, in dem die islamische Zivilisation ihre Raffinesse und Blüte erreichte. Das hässliche Mullah-Regime von heute ist nur eine kümmerliche Fußnote in seiner Geschichte. Wer Iran angreift, löst den „Krieg der Kulturen“ wirklich aus.

In der türkischen Radikal, die entgegen ihrem Namen eine gemäßigt linke Linie verfolgt, schreibt der Publizist Haluk Sahin stellvertretend für die türkische Mehrheit: „Die Meinungsfreiheit hat die menschliche Vernunft von ihren Fesseln befreit. Sie ist die Hauptursache dafür, dass der Westen in den letzten 300 Jahren andere Zivilisationen überholte, sie kolonisierte und auf sie herabzublicken lernte.“ Dass die Meinungsfreiheit für die westlichen Demokratien heilig sei, könne man verstehen. Aber: Man schreie in einem vollen Kinosaal nicht „Feuer!“ Sahin fragt: „Etwas machen zu können, zwingt niemanden dazu, es auch wirklich zu machen.“ So rufen türkische Meinungsmacher zornige Muslime heute dazu auf, ihren Protest durch Klagen vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte kundzutun statt gewalttätig zu werden.