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Archiv-Artikel

„Ich rede und rede und rede“

PILOTPROJEKT In Bremen haben die ChefärztInnen der Geburtskliniken, niedergelassene GynäkologInnen, Hebammen und Krankenkassen ein bundesweit einmaliges „Bündnis zur Förderung der natürlichen Geburt“ gegründet. Zentrales Anliegen: Die Kaiserschnittrate, die im Bundesdurchschnitt von 32 Prozent liegt, senken. Was sie als MedizinerInnen dazu beitragen können und wo sie an Grenzen stoßen, erklären Elisabeth Holthaus-Hesse und Torsten Frambach

Elisabeth Holthaus-Hesse

■ 58, Fachärztin für Gynäkologie und Geburtshilfe, in eigener Praxis seit 20 Jahren, stellvertretende Vorsitzende des Berufsverbandes der Frauenärzte e.V. in Bremen. Engagiert sich mit ihrem Klinik-Kollegen im Bremer „Bündnis zur Förderung der natürlichen Geburt“.

■ Gynäkologin wollte sie nach der Hausgeburt ihrer ersten Tochter werden. Davor arbeitete sie als Kinderchirurgin.

INTERVIEW EIKEN BRUHN

taz: Frau Holthaus-Hesse, Herr Frambach, warum steigt die Kaiserschnittrate jedes Jahr?

Elisabeth Holthaus-Hesse: Da spielen sehr viele Faktoren eine Rolle. Es beginnt mit der Schwangeren und was sie an Ängsten und Nöten mitbringt. Sie freut sich, hat aber gleich im Hinterkopf, was alles schiefgehen kann. Unser größter Feind ist im Moment das Internet. In diesen Foren steht so viel Blödsinn, mit dem kommt sie dann zu mir in die Praxis. Das war vor 20 Jahren, als ich anfing, ganz anders.

Aber es ist doch gut, dass Frauen sich informieren. Wünschen Sie sich die devote Patientin zurück, die tut, was Sie ihr sagen?

Holthaus-Hesse: Nein! Die Frauen waren damals sehr selbstbewusst. Aber sie hatten mehr Vertrauen in sich, und dass wir als Fachleute schon rechtzeitig sehen, wenn etwas nicht gut läuft.

Wegen der verunsicherten Frauen entscheiden die Geburtshelfer „jetzt hilft nur noch ein Kaiserschnitt“?!

Torsten Frambach: In gewisser Weise schon. Wir haben heute eine ganz andere Arzt-Patient-Beziehung. Vor 20 Jahren hat der Arzt gesagt, „wir machen das jetzt so“ und der Patient hat gesagt, „gut, Herr Doktor, wenn Sie das so sagen“. Heute müssen wir über jedes Risiko aufklären. Was im Prinzip gut ist – wir brauchen mündige Patienten. Aber diese Verpflichtung aufzuklären, führt in der Geburtshilfe, wo es so viele Ermessensentscheidungen gibt – und die oft in extremen Situationen – zu Irritationen.

Haben Sie ein Beispiel?

Frambach: Nehmen wir das Geburtsgewicht. Das können wir über Ultraschall nur schätzen …

und auch mal mehrere hundert Gramm danebenliegen.

Frambach: Richtig. Aber wenn wir ein Gewicht von über 4.000 Gramm erwarten, sind wir verpflichtet, darüber aufzuklären, dass nach der Geburt des Kopfes eine Schulter im Geburtskanal hängen bleiben kann – mit dem Risiko einer Nervenverletzung des Kindes oder einer Sauerstoffunterversorgung. Ich ermutige individuell zur vaginalen Entbindung, aber die meisten sagen, „um Gottes Willen, dann möchte ich lieber einen Kaiserschnitt“. Und wenn wir nicht aufklären und etwas passiert, dann würden wir vor Gericht verlieren.

Vor diesem Problem stehen Geburtshelfer in allen Kliniken. Dennoch gibt es in manchen Kreisen eine Rate von 17 und in anderen von 51 Prozent.

Holthaus-Hesse: 17 Prozent, das ist eine einzige Klinik in Dresden, die das hinkriegt und uns interessiert sehr, wie sie das schaffen. Aber es ist eine Level-3-Klinik, das heißt, dort werden keine Risikogeburten betreut.

Aber die regionalen Unterschiede sind doch da. Die Klinik in Wittmund macht auch nur Normalgeburten: 42 Prozent.

Holthaus-Hesse: Und das Sankt-Joseph-Stift hier in Bremen hat 26,4 Prozent – obwohl auch Frühgeburten entbunden werden. Das ist doch wunderbar!

Herr Frambach, reicht Ihnen das als Chefarzt oder wollen Sie die Rate noch drücken?

Frambach: Ich denke, zwei bis drei Prozent sind gut machbar. Mehr wären wünschenswert …

Aber?

Frambach: Wir müssen die gesamtgesellschaftliche Entwicklung berücksichtigen. Wir sind weg von der Abwehr akuter Gefahr hin zur Prävention. Wir wollen im Vorfeld alle Risiken vermeiden. Noch vor 20, 30 Jahren hat man eine gewisse Säuglings- und Müttersterblichkeit akzeptiert. Das ist heute inakzeptabel.

Aber in dem Zeitraum, in dem sich die Kaiserschnittrate verdoppelt hat, hat sich die Sterblichkeitsrate nicht halbiert.

Frambach: Das stimmt.

Wie wollen Sie die Kaiserschnittrate senken?

Torsten Frambach

■ 43, seit April 2011 Chefarzt der Frauenklinik am privaten Bremer St. Joseph-Stift. Dort wurden im vergangenen Jahr 2.014 Kinder geboren, nur in einer städtischen Klinik in Bremen kamen noch mehr zur Welt. Er arbeitet mit im „Bündnis zur Förderung der natürlichen Geburt“.

Frambach: Wir werden in unserem Haus ein Team bilden, das speziell zur vaginalen Beckenendlagengeburt gerufen wird. Fünf Prozent aller Kinder liegen mit dem Steiß im Becken – und 85 Prozent dieser Kinder werden per Kaiserschnitt geboren. Das muss nicht sein.

Finden Sie Ärzte, die Steißgeburten begleiten können?

Frambach: Ja, in meiner Generation ist das Wissen noch vorhanden und wir können es weitergeben. Es ärgert mich, wenn die Kaiserschnittrate darauf zurück geführt wird, dass wir Ärzte nichts mehr können. Ich will Ihnen noch einen weiteren Punkt nennen, mit dem sich Kaiserschnitte vermeiden lassen. Wir brauchen eine Eins-zu-eins-Betreuung durch die Hebamme während der Geburt. Wichtig ist, dass eine pro Gebärende da ist und nicht wie jetzt zwei oder noch mehr betreuen muss. Dafür müssen die Kassen aber auch mehr Geld ausgeben.

Laut einer aktuellen Studie hat das nur einen kleinen Einfluss.

Frambach: Aber es hat einen. Alle diese Faktoren haben nur einen kleinen Einfluss. Der Wunschkaiserschnitt, wenn sich eine Frau nicht davon überzeugen lässt, dass eine vaginale Geburt besser ist, macht auch nur zwei bis drei Prozent aus.

Holthaus-Hesse: Ich glaube der Studie nicht. Ich erlebe es ganz oft, dass Frauen einen Kaiserschnitt hatten – nicht wegen des Kindes, sondern weil sie erschöpft waren oder der Muttermund nicht aufging oder sie eine Wehenschwäche hatten. Fast immer gab es in diesen Fällen keine Eins-zu-eins-Betreuung. Mich macht das immer ganz traurig, wenn die guten Mutes in die Geburt gegangen sind und das dann so endet.

Wie können Sie und Ihre niedergelassenen KollegInnen die Sectio-Rate noch beeinflussen?

Holthaus-Hesse: Wir dürfen nicht zulassen, dass Leitlinien erstellt werden, die den natürlichen Geburtsverlauf stören, wie die Geburtseinleitung eine Woche nach Terminüberschreitung. Und wir können als Berufsverband Kollegen darauf aufmerksam machen, dass sie eine Frau nicht zur Sectio überweisen, sondern das der Klinik überlassen.

Oder man überlässt die Vorsorge Hebammen. Die sind später bei der Geburt dabei.

Holthaus-Hesse: Hebammen sind in der Begleitung von Schwangeren unverzichtbar und es ist ein Skandal, wie schlecht ihre Arbeit bezahlt wird. Aber wir brauchen auch das medizinische Wissen, um Pathologien rechtzeitig zu erkennen. Ohne ein Studium können Sie das nicht erwarten. Und warum soll man den Ärzten die Schwangerenbetreuung wegnehmen? Dafür haben wir uns ausbilden lassen!

Frambach: Wir brauchen eine enge Zusammenarbeit beider Berufsgruppen. Wobei wir mit dem Runden Tisch in Bremen auf einem sehr guten Weg sind.

Holthaus-Hesse: Ich möchte nicht, dass Hebammen und Ärzte gegeneinander ausgespielt werden. Es läuft gerade richtig gut.

Aber in einer normal verlaufenden Schwangerschaft, in der die Frau ein gutes Gefühl hat: Was soll die beim Arzt?

Holthaus-Hesse: Solche Frauen werden immer seltener.

Frambach: Die meisten wollen zum Arzt, obwohl sie nicht müssen. Viele kommen ja sogar viel häufiger als vorgeschrieben zum Ultraschall, weil sie ein so großes Sicherheitsbedürfnis haben. Sie wollen wissen, ist das Kind gesund, wie geht es ihm?

Aber das können Sie ihnen doch gar nicht sagen. Und für vieles, was Sie im Ultraschall sehen, gibt es keine Heilung.

Acht Mythen über den Kaiserschnitt

Das ist eine Modeerscheinung (Wird oft behauptet. Die Datengrundlage ist allerdings mager, von ÄrztInnen geäußerte gefühlte Werte hängen von deren Einstellung ab. Eine Befragung von 1.339 Frauen im Auftrag der GEK-Kasse im Jahr 2006 ergab, dass in Deutschland zwei Prozent aller vorher geplanten Kaiserschnitte einzig auf Wunsch der Frau gemacht wurden.)

Die machen das, damit die Geburt in den Terminplaner passt und/ oder die Vagina elastisch bleibt (Sowohl die quantitative GEK-Studie der Gesundheitswissenschaftlerin Petra Kolip als auch die qualitative einer ihrer ehemaligen Mitarbeiterinnen machen vor allem Ängste aus – oft nach einer traumatischen ersten Geburt.)

Die Mütter sind heute einfach zu alt (Richtig ist, dass mit dem Alter das Frühgeburts-Risiko erhöht ist und damit das eines Kaiserschnitts. Doch nach der zweiten großen deutschen Studie, die wieder Kolip durchführte – dieses Mal im Auftrag der Bertelsmannstiftung – nahmen die Sectiones bei sehr jungen Frauen überdurchschnittlich zu.)

Im Osten wird weniger geschnitten, weil die Frauen früher Kinder kriegen (Auf Länder-Ebene gibt es ein Ost-West-Gefälle. Aber der Vergleich einzelner Landkreise ergibt ein differenzierteres Bild. Und: 2010 waren die Ost-Frauen im Schnitt 27,4 Jahre alt bei der Geburt ihres ersten Kindes, im Westen 29,2.)

Die Babys sind zu dick (Laut Statistischem Bundesamt werden sogar etwas weniger über 4.000 Gramm schwere Kinder geboren als vor zehn Jahren. Zugenommen hat – wegen der intensiveren Versorgung von Frühgeburten – der Anteil von lebend geborenen Kindern unter 2.500 Gramm.)

Künstlich gezeugte Kinder werden künstlich geboren (Da ist was dran. Nach einer umfangreichen Studie der australischen Gesundheitswissenschaftlerin Karin Hammarberg aus dem Jahr 2006 war die Sectiorate sowohl bei Einlingen als auch bei Zwillingen um jeweils ein Drittel höher als bei natürlich gezeugten Kindern. Vermutlich, um „auf Nummer sicher zu gehen“.)

Wer einmal einen hatte, kann nie wieder anders gebären (Nach einem Kaiserschnitt steigt die Wahrscheinlichkeit von Komplikationen bei einer vaginalen Geburt, wie zwei Studien aus dem Jahr 2012 zeigen. Diese, so deren Fazit, seien selten und kalkulierbar. Die Deutsche Gesellschaft für Geburtshilfe und Gynäkologie hält einen Automatismus für falsch. Dennoch ist laut GEK-Studie das Sectio-Risiko nach Kaiserschnitt um das 8,6-fache erhöht.)

Kaiserschnitte werden besser bezahlt als vaginale Geburten, deshalb wollen die Kliniken das (Wahr ist, dass die Geburtshilfe inner- und außerhalb der Kliniken besser bezahlt werden könnte. Aber die Kliniken verdienen nicht an den Sectiones, weil Material- und Personalkosten höher sind.) EIKEN BRUHN

Dennoch ist es sinnvoll, weil man eine Schwangerschaftsvergiftung nicht fühlen kann oder ob das Kind zu klein ist oder unterversorgt. Und wenn man eine Fehlbildung erkannt hat, kann man das Kind nach der Geburt sofort adäquat versorgen.

Aber dann hat das Sicherheitsbedürfnis der Frauen einen Grund: Schwangerschaft ist etwas Problematisches, das vom Arzt kontrolliert werden muss.

Frambach: Nein, Schwangerschaft und Geburt sind unglaublich tolle Erlebnisse. Aber es wird immer nur über das berichtet, was problematisch ist.

Holthaus-Hesse: Es gibt die seltenen Komplikationen, die müssen wir herausfinden. Und wir müssen der normalen Schwangeren vermitteln, das alles okay ist. „Alles bestens“, das ist der häufigste Satz, den wir sagen. „Wir brauchen jetzt keinen Ultraschall, es ist alles gut.“ Aber ich verstehe die Frauen auch. Die haben heute dieses Gefühl, sie müssen alles perfekt machen.

Frambach: Sie müssen im Job super sein …

Holthaus-Hesse: … und die perfekte Geliebte und Ehefrau und Gebärende und bei allem immer gut aussehen.

Und wie können Sie helfen?

Holthaus-Hesse: Ich rede und rede und rede und versuche, Ängste zu nehmen. Dafür muss man aber auch die Zeit haben. In der Schwangerenbetreuung bekommen wir 110 Euro im Quartal – egal wie oft eine Frau da ist. Das erfordert viel Empathie, wenn die dann zehn Mal kommt. Aber die meisten von uns bringen die auf, weil wir selbst mal in der Situation waren.