: Kintopp po russki
KINO Von Aufklärungsfilmen der 1920er Jahre bis zum osteuropäischen Nischenwerk: Das Krokodil in Prenzlauer Berg feiert sein 100-jähriges Bestehen
■ Die nächsten Filme im Rahmen des Jubiläumsprogramms laufen am Mittwoch, den 19. Juni (20 Uhr) mit dem Film „Mehr Licht!“ (Original mit Untertiteln) über die Geschichte der Sowjetunion ab 1917 und am 27. Juni (20.45 Uhr) mit der deutschen Fassung des Spielfilms „Der kalte Sommer des Jahres 53“.
■ Das Kino liegt in Prenzlauer Berg, Greifenhagener Straße 32, 10437 Berlin.
VON JENS UTHOFF
Man hört ein Knistern, sieht ein Flackern. Der Kinosessel ist abgewetzt. Auf dem Boden liegt Staub. Der Vorführraum und der Saal wirken, als seien sie der Urzeit der Kinematografie entsprungen. „Im ehemaligen Nord erleben Sie noch Filmrisse, schlecht beheizte Toiletten, leere Vorstellungen“, heißt es in der aktuellen Festschrift des Kino Krokodil in Prenzlauer Berg. Mangel, so der Tenor, muss nicht immer schlecht sein.
Im Gegenteil, hier wirkt dieser Mangel anregend. Der Vorführraum steht offen, man sieht einen alten, üppigen Projektor und Schatullen mit Filmrollen. Hier, in einem kleinen Haus nahe der Schönhauser Allee, gab es bereits ein Kino, als dieses noch jung, stumm und schwarz-weiß war. Derzeit werden „100 Jahre Kino in der Greifenhagener Straße“ gefeiert. Heute ist das Krokodil ein Programmkino für russischen und osteuropäischen Film.
Aufgrund der schlechten Quellenlage war lange gar nicht klar, wann genau man denn nun feiern sollte. Als Lichtspielhaus angemietet wurde der Raum bereits Ende 1912. „Mittlerweile wissen wir aber, dass das Kino erst im Februar 1914 tatsächlich eröffnet hat“, sagt Gabriel Hageni, heutiger Betreiber des Krokodil. „Wir haben dadurch jetzt die Chance, länger zu feiern.“ In einem Jubiläumsprogramm führt das Kino den Besucher „In 100 Filmen durch das Jahrhundert“. Im Juni sind etwa Filme aus der Perestroika-Zeit zu sehen. Es wird aber auch thematische Schwerpunkte geben, die mit dem heutigen Programm des Kinos nicht so eng verknüpft sind – etwa eine Reihe von Aufklärungsfilmen, zu der die österreichische Produktion „Hygiene der Ehe“ (1922) und der Defa-Film „Liebe 2002“ (1972) gehört.
Kinojubiläen gibt es zuhauf, dass dieses hier ein besonderes ist, liegt vor allem an der Atmosphäre in dem kleinen, abgewrackten Saal, der so gar nichts mit dem Multiplex-Dolby-Surround-Erlebniskino von heute zu tun hat. Außerdem liegt es an der Geschichte des Scheiterns, die das Kino hinter sich hat: Immer wieder musste es unter wechselnden Besitzern schließen. Nicht zuletzt liegt es an der Hartnäckigkeit des aktuellen Besitzers, der das Filmtheater mit dem eigenwilligen Programm am Laufen hält. „Alle haben gesagt, das wird nicht funktionieren“, sagt Hageni über die Zeit, als er 2004 das Kino Krokodil wiedereröffnete. Mit Sergej Loznitsas „Segodnja my postroim dom“, einem humoristischen Filmessay zur russischen Arbeitsmoral, ging es damals los. Zunächst sollte es nur russische Filme geben, mittlerweile hat der Chef das Programm auf Ost- und Südosteuropa ausgedehnt. „Ich wollte ein Programm zeigen, das es so in Berlin noch nicht gab“, erklärt Hageni. Nun betreibt er das Kino im zehnten Jahr. Er bedient damit eine Nische: Bei manchen Filmen kämen ausschließlich russische Besucher – manchmal aber auch gar keine. Einen gewissen Stamm aber rekrutiere er natürlich aus den etwa 110.000 Bewohnern Berlins, die aus dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion stammen.
Hageni kommt aus Sachsen und empfand den großen östlichen Nachbarn schon immer als „exotisch“. Als alle seine Freunde nach der Wende ins westliche Ausland gingen, zog es ihn nach Kaliningrad. „Ich dachte, der Westen bleibt ja so, wie er ist, was ja auch ein Trugschluss war. Aber der Osten im Umbruch schien mir interessanter.“ Seine Vorliebe für den russischen Film entwickelte er in der DDR: „Dort war man ja eher mit dem russischen Film verbunden.“ Die Filme Sergei Eisensteins in den 1920er Jahren („Panzerkreuzer Potemkin“) und später Andrei Tarkowskis („Stalker“) mögen noch ein Begriff sein, sonst ist hierzulande wenig über das russische Kino bekannt. Hageni fand die Filme während der Perestroika-Zeit bemerkenswert – besonders die in der DDR plötzlich verbotenen Streifen, die er dann erst 1990 sah. „Durch die Legenden, die sich darum rankten, bin ich zum russischen Film gekommen.“
Mehr als 90 Jahre bevor Hageni sein Kino eröffnete, war der Berliner Geschäftsmann Max Schrödter der Erste, der in diesem unauffälligen Haus in der Seitenstraße ein Kino betreiben wollte. Es ist 1912, Deutschland ist noch Kaiserreich, das Kinos heißen damals Kintopp. Der Tonfilm liegt in den Anfängen, an Fernsehen ist noch nicht zu denken. Die Kinobranche wächst in dieser Zeit rasant. In direkter Nähe gibt es bereits zwei Kinos in der Schönhauser Allee.
Schrödter nennt sein Filmtheater Kino Nord. Die Programmgestaltung in den frühen Jahren ist unklar: „Was während des Ersten Weltkriegs gelaufen ist, lässt sich nicht rekonstruieren“, sagt Hageni, „das wurde nicht über die Film- oder die Tagespresse verkündet.“ Die Weimarer Jahre lassen sich besser nachvollziehen. In den 1920ern gibt es ein großes Interesse an den sogenannten Sittenbildern: Im Nord laufen Filme wie „Tagebuch einer Verlorenen“, die eine aufkeimende Liberalität genauso abbilden wie die sozialen Abgründe der späten Weimarer Jahre. So kommen auch die von der Gesellschaft verstoßenen, materiell und sozial verarmten Menschen in den Filmen vor. „Die Verrufenen. Der fünfte Stand“ und andere Berliner Unterschichtsfilme von Gerhard Lamprecht sollen im Nord gelaufen sein.
Mitte der 1920er Jahre hat Prenzlauer Berg 25 Kinos. Es ist keine Seltenheit, dass die Polizei wegen des großen Andrangs und Tumulten auftaucht. Rauchen im Kino ist zu dieser Zeit en vogue: „Man braucht die angerauchte Zigarette beim Eintritt nicht fortzuwerfen und kann für ein Geringes aufsteigenden Hunger und Durst befriedigen, ohne seinen Platz verlassen zu müssen“, berichtet eine Zeitung über das damalige Nord.
Wie das Kino in der Nazizeit aussah, ist nicht überliefert. Ein einziges entdecktes Dokument zeigt den Besitzer im Jahre 1937, Alfred Voll, eher opportun zum NS-Regime. Gegenüber der Baupolizei äußert er sich beeindruckt „von den großen Anstrengungen der Filmindustrie um den deutschen Film“ und unterzeichnet „mit deutschem Gruß“.
Nach dem Krieg wird das Kino ab 1947 wieder betrieben. 1956 wird es in der DDR als VEB Berliner Filmtheater verstaatlicht. Mit dem Mauerbau und gleichzeitigem Aufkommen des Fernsehens schließt es 1963. Erst 30 Jahre später erfolgt die Neueröffnung durch die Yorck Gruppe, zehn Jahre später aber muss sich das Kino vor allem der Konkurrenz im nahen Collosseum beugen.
2004 kommt dann Gabriel Hageni mit seinen russischen Filmen im Schlepptau. Seither betreibt er stoisch sein kleines, gut 100 Besucher fassendes Kino. Das Krokodil erhielt 2007 den Preis der Robert-Bosch-Stiftung für deutsch-russisches Bürgerengagement und in den vergangenen drei Jahren den Hauptpreis des Medienboards Berlin-Brandenburg. Der russische Film habe es im Ausland gar nicht so schwer, wie man glaube, sagt Hageni. „Im Arthouse-Bereich erfahren die Filme durchaus große Resonanz, da haben es andere Filmnationen schwerer. Der russische Film ist auf Festivals immer mal wieder erfolgreich.“ Die populärsten Filme im Krokodil waren „Die Rückkehr“ (2003), ein Filmdebüt, das in Venedig den Goldenen Löwen gewann, sowie „Wyssozki – Danke für mein Leben“ (2011), der die Aktivitäten des usbekischen KGB gegenüber illegalen Konzertveranstaltern beleuchtet.
So kann man viel über die kleineren und größeren östlichen Nachbarn und deren Geschichte lernen im Krokodil – und im Moment auch viel über die gesamte Kinogeschichte. Der raue Charme passt so gar nicht in das heutige Bild des Prenzlauer Bergs, er erinnert eher an die Mitte der 90er Jahre. Das Karge ist nicht nur schlecht.