Der Andere des Menschen

Mehr als ein Trost für Misanthropen: Der Braunbär kehrt in die Alpen zurück. Ein Phänomen, das der Wirklichkeit wohl tuende Lebendigkeit verleiht: Macht es doch klar, dass der Mensch nur eine evolutionäre Variante an der Spitze der Nahrungskette ist

VON CHRISTIAN KORTMANN

Die Informationsmöglichkeiten der Gegenwart verbessern die Gemütslage nur selten, denn jederzeit können einen an jedem Ort Nachrichten über das Schlechtsein der Welt erreichen – und in diesen Tagen der allgemeinen Aufregung um die Mohammed-Karikaturen sowieso. Doch ab und zu dringt erfreuliche Kunde zu einem vor, die hoffnungsfroh stimmt: So war kürzlich zu lesen, dass der Grizzlybär von der roten Liste der bedrohten Tierarten gestrichen wurde, weil sein Bestand in Nordamerika gesichert ist. Des Weiteren hört man, dass in den Alpen wieder vermehrt Braunbären gesichtet werden. Das Großraubtier Ursus arctos kehrt also in die Wildnisreservate innerhalb des durchzivilisierten Raums der nördlichen Hemisphäre zurück.

Darüber staunen besonders die Europäer, für die wilde Tiere nur mehr wie in Formaldehyd in den Mythen und Symbolen ihres Kontinentes konserviert sind – man denke an die Gründungsgeschichten von Rom, Berlin oder Bern. Und man hat den Bären gegenüber einiges gutzumachen. Schon die Germanen exportierten sie in großem Stil nach Rom, wo sie bei grausamen Gladiatorenkämpfen umkamen. Im 19. Jahrhundert wurde der Braunbär dann in vielen Regionen ausgerottet, in Deutschland der letzte Bär 1835 erschossen. Als man in Europa von Löwen noch nichts gehört hatte, galt der Bär als König der Tiere, doch heute stellt man ihn sich meist als Börsenallegorie, Teddy, hinter Gitterstäben oder als Star von Fernsehdokus vor: Mindestens einmal pro Woche kann man auf irgendeinem Sender Grizzlys beim Lachs- oder Eisbären beim Robbenfang beobachten. Und jetzt das: Bären unter uns, live und in Farbe! Als vergangenen Sommer in Graubünden der erste Bär seit 1923 auf Schweizer Terrain gesichtet wurde, löste das einen wahren Bärenboom aus: Zeitweise drängelten sich 300 Schaulustige an der schmalen Ofenpassstraße, wo sich der Bär regelmäßig zeigte.

Heute weiß man so viel über Bären, dass man sie nicht mehr jagen will und muss. Diplomatie ist an die Stelle der Kriegführung getreten. So gibt es in Österreich, wo ungefähr 30 Braunbären leben, Bärenanwälte, die Menschen besänftigen, an deren Nutztierbeständen oder Bienenstöcken sich die Allesfresser bedienten. Die Rückkehr des Bären ist nicht nur eine tolle Sache für Touristen und Bilderjäger, sondern ein erfreuliches Phänomen für das allgemeine Lebensgefühl. Denn das Wissen um die Existenz der Bären verleiht der Wirklichkeit eine wohl tuende Lebendigkeit: Es gibt das wilde und gefährliche Leben da draußen also noch!

Der Braunbär wird in den Alpen zwar über zwei Meter groß und 250 Kilogramm schwer, ist aber scheu und greift Menschen nur an, wenn diese ihm zu nahe kommen. Doch man freut sich über die potenzielle Gefahr, die von solch einem Raubtier ausgeht, weil sie manches zurechtrückt. Es wird einem klar, dass der Mensch nur eine evolutionäre Variante an der Spitze der Nahrungskette ist – und der Bär eine gleichberechtigte Alternative selbstbestimmten Lebens. So spendet der Einzelgänger allen Misanthropen Trost, denn er verkörpert das Undomestizierte, das Un-Unterordbare, das der despotische Mensch nicht kleingekriegt hat. Wie schön, dass man diese Welt auf eine nichtmenschliche Art und Weise souverän bewohnen kann. Dieses Andere fehlt dem anthropozentrischen Zivilisationsbewohner allzu oft. Vom nomadisch-puristischen Lebensstil des Bären könnte er etwa Gelassenheit und Genügsamkeit lernen.

Wandert man in diesen Tagen durchs tief verschneite Kaisergebirge nahe Kufstein, wo einst viele Bären in Höhlen hausten, so gewinnt diese einsam-stille Landschaft dadurch, dass der Bär wieder anwesend sein könnte, an Vitalität. Ein Ortsname wie Hinterbärenbad, der hier noch von einer früheren ehrfurchtsvollen Koexistenz von Mensch und Bär kündet, wird gewissermaßen reaktiviert. Man blickt über die weiten Hänge und Wälder, auf die entlegenen Felsgrate und weiß, dass sich dort oben seine charakteristische Silhouette abzeichnen könnte oder er vielleicht gerade schnarchend in seiner Höhle liegt. Der Bär ist ein ebenso archaisches wie lebendiges Symbol, das einem verdeutlicht, wie es hier einmal war und wie es wieder sein könnte, dort, wo die Landschaft noch nicht völlig zersiedelt und vom Menschen kolonisiert ist.

Die Faszination für Bären hat einen Doppelcharakter, der einerseits von der empathischen Nähe zur anderen Art und andererseits von der existenzialistischen Gefahr bestimmt wird. So findet man im Katalog des Outdoor-Ausrüsters Globetrotter, in dem sich die neo-Rousseau’schen Natursehnsüchte einer ganzen Subkultur kristallisieren, auch das Gadget „Bärenglocke“, mit der man beim Gehen durch die Wälder läutet, um Bären zu verscheuchen. Dabei ist der Überlebenskünstler Bär derjenige, der das Outdoor-Motto „Draußen zuhause“ par excellence verwirklicht.

Momentan halten die Bären noch Winterruhe, welche man sich wie ein großes Vor-sich-hin-Dösen vorstellen muss. Nur ab und zu stehen sie auf, drehen eine Runde durch die Höhle, essen einen Happen oder suchen sich ein neues Lager – da sind sie also ganz wie wir. Hoffentlich träumen sie süß, um im Frühjahr gut erholt für Bärennachwuchs zu sorgen. Denn ihre Existenz macht auch unser Leben lebenswerter. Ist der Bär gesund, freut sich der Mensch.