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Archiv-Artikel

Sich ein Bild machen

Wie kann man Jugendlichen die historischen Grauen des Holocaust vermitteln? Digne M. Marcovicz macht aus den Berichten von Überlebenden rasant komponierte Comics

von PHILIPP GESSLER

Die Frage, ob man den Horror des Holocaust darstellen kann, ist mittlerweile beantwortet: ja – und nein. In Steven Spielbergs Film „Schindlers Liste“, dem prominentesten Beispiel, glückt der Versuch, weil er alles darstellt und sich dennoch selbst Grenzen setzt. Denn was in den Gaskammern von Auschwitz passierte, zeigt er nicht, er deutet es an. Er erzeugt keine physikalischen Bilder aus Licht, sondern Bilder im Kopf, wie es die wahren Meister des Films können. Denn – nicht wahr? – die Bilder im Kopf sind die wirklich grauenhaften. Sie sind nicht zu vertreiben.

Was dem Medium Film eine Schwierigkeit ist, ist dem Medium Comic ein Dilemma, weil diese Kunstform noch nicht einmal den Ton nutzen kann, um etwas zu vermitteln – und was wäre Film ohne Ton? Comics sind Bilder, ihr Text kann nur wenig auffangen. Deshalb hat sich der Comic wohl noch schwerer getan als der Film, den Holocaust zu thematisieren. Dabei hat gerade der Comic die Kraft, die zu erreichen, die Künstlerinnen und Künstler doch vor allem ansprechen wollen in ihrer Darstellung des nicht Darstellbaren: junge Menschen.

Sie sind es schließlich, die aus dem unfassbaren Geschehen für die Zukunft lernen sollen – und warum soll dies nicht mit Comics möglich sein? Art Spiegelman hat es mit seinem Comic „Maus“ vorgemacht. Er beschreibt darin die Verfolgung seines Vaters durch die Nazis. Die Juden sind die Mäuse, die Polen die Schweine, die Nazis die Katzen. Fast lächerlich klingt das alles, aber diese Geschichte in Schwarz-Weiß funktioniert. Vor 14 Jahren erhielt der US-Amerikaner Spiegelman den Pulitzer-Preis für „Maus“. Es gilt als Meilenstein der Comic-Literatur, eines Mediums, das es nun sogar schon ins Feuilleton der FAZ geschafft hat, die gerade eine Best-of-Comic-Reihe herausgibt.

Digne M. Marcovicz, Jahrgang 1934, wandelt auf ähnlichen Wegen. Auch sie will die Comic-Ästhetik nutzen, um das Menschheitsverbrechen schlechthin für die Nachwelt festzuhalten – angeregt, wie sie erzählt, durch einen ihrer Enkel, der praktisch nichts mit dem Wort Holocaust anfangen konnte. „Schon heute weiß jeder fünfte Jugendliche nicht mehr, wer oder was Auschwitz war oder ist“, erklärt die Fotoreporterin, Journalistin, Filmemacherin und Künstlerin aus Berlin, Bezug nehmend auf soziologische Untersuchungen. Das wollte sie ändern, indem sie zwölf Überlebende der versuchten Ermordung aller Juden Europas zu Wort kommen lässt. In Comics. Man könne sich an die Ästhetik von Mangas erinnert fühlen, formuliert sie vorsichtig.

„Massel“ nennt Marcovicz ihr Projekt, bei dem sie der Bühnenbildner Notker Schweikhardt unterstützt hat. Es ist ein jiddisches Wort, das in etwa „Glück im Unglück“ bedeutet. Sie hat Überlebende des Holocaust in Jerusalem, Warschau und Berlin besucht, Interviews mit ihnen auf einer digitalen Kamera festgehalten – und daraus ein 370-seitiges Buch mit vielen Bildern und wenig Text gemacht. Derzeit interessieren sich mehrere Verlage für das Manuskript.

Wenn man diese Geschichtensammlung durchblättert, ist schnell klar: Marcovicz versteht ihr Fach des fotografischen Erzählens – sie hat jahrzehntelang als Spiegel-Fotografin gearbeitet. Die packenden Geschichten des Überlebens, des Glücks und Leids in einer schier ausweglosen Situation vermag Marcovicz in Bilder zu fassen, die genau die so nötige Balance halten, wenn es um den Holocaust geht: alles vermitteln, ohne alles zu zeigen.

Hier nutzt Marcovicz einen Kniff: Die Bildergeschichten sind keine klassischen Comics, bei der eine begabte Hand Geschehen zeichnet. Ihre Comics bestehen aus Fotos der Interviews, aus transkribierten Passagen der Interviews mit den Überlebenden oder Zitaten aus deren Veröffentlichungen. Hinzu kommen Fotos oder Karten aus Archiven, die das damalige Geschehen zusätzlich illustrieren. Dies vermittelnde Erzählen, dieser Filter hilft, dass kein voyeuristisches Schauen möglich ist.

Marcovicz vertraut den Geschichten, die sie erzählt. Sie vertraut den Gesichtern und den Berichten der Überlebenden – und wer je erlebt hat, wie gefesselt die meisten Jugendlichen den Erzählungen von Zeitzeugen aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs lauschen, der kann sich gut vorstellen, dass diese Herangehensweise bei jungen Menschen ankommen kann. Ihrem Enkel jedenfalls, so erzählt Marcovicz, hätten die Holocaust-Mangas oder -Comics gefallen: So etwas fände er schon spannend, habe er gesagt.

Dabei nimmt Marcovicz die Geschichten der Überlebenden so ernst wie die Erfordernisse der Comic-Ästhetik, die angelegt ist auf Verknappung und Zuspitzung – allerdings mit der besonderen Schwierigkeit, dass die Geschichten von „Massel“ nichts Fiktives enthalten sollten. Wo etwa die japanischen Mangas, die derzeit unter deutschen Jugendlichen ungeheuer beliebt sind, einfach Geschichten und Personen erfinden können, bindet sich Marcovicz historisch penibel an das damalige Geschehen. Oder zumindest an das, woran sich die Überlebenden erinnern.

Das Schriftbild aber, die Höhe der Fotos und Skizzen variieren wild, fast mutig. Zentrale Worte sind gefettet und dominieren ganze Seiten. Fotos werden zerschnipselt und collagenhaft kombiniert – all dies offenbar ohne jegliche Scheu, das Unfassbare stumm herauszuschreien, wenn das denn geht. „Schluck!“, „bum“, „zisch“ sind zwar nicht zu lesen. Aber sehr fern scheinen solche Ausdrücke auch nicht zu sein. In einer Welt der Bilder und Schlagworte will Marcovicz bessere Bilder und Schlagworte finden.

Wenn man sie fragt, was sie – neben der Geschichte mit ihrem Enkel – eigentlich dazu getrieben hat, dieses Projekt voranzutreiben, wird Marcovicz recht einsilbig. Aber man ahnt, dass da viel Persönliches mitschwingt. Marcovicz’ Halbschwester war Cato Bontjes van Beek, die als Widerstandskämpferin von den Nazis am 5. August 1943 in Berlin-Plötzensee ermordet wurde. Die Holocaust-Mangas scheinen auch eine Form zu sein, sich mit den Mördern ihrer Schwester auseinander zu setzen und den NS-Opfern ein Denkmal zu setzen, eines, das auch die folgenden Generationen noch verstehen.

Die Holocaust-Überlebenden jedenfalls, denen sie ihre jeweilige Geschichte noch einmal quasi zum Autorisieren vorlegte, fanden die Idee gut, wie Marcovicz erzählt. Sie hatten keine Probleme mit der besonderen Comic-Ästhetik – und bei manchen Interviewten, die mittlerweile gestorben sind, können die Comics zu ihrer Geschichte als letzte authentische Lebensbeschreibungen gesehen werden. Auch dies eine Verantwortung, der sich Marcovicz stellt.

Felix Görmann, ein 26-jähriger rising star am deutschen Comic-Himmel, hat den Comic jüngst als „Film aus Papier“ bezeichnet, bei der Lesende zugleich Projektor und Leinwand seien. Gegenüber dem Film biete der Comic die Chance, Zeitabläufe dem Betrachter zu überlassen, der sich seine Geschwindigkeit selbst wählen, der vor- und zurückspringen, der Bilder miteinander verknüpfen könne. Diese Stärke der Bildergeschichten weiß Marcovicz zu nutzen, ohne den Bildern zu verfallen.

In jüngster Zeit haben zwei große alte Zeichner so etwas wie Vermächtnisse in Comicform vorgelegt: Will Eisner mit „Das Komplott“ über die Entstehung der Lügengeschichte „Protokolle der Weisen von Zion“ und Joe Kubert mit „Yossel, 19. April 1943“, das die Judenvernichtung thematisiert. Kühn wie diese Meisterwerke sind auch die Comics von Digne M. Marcovicz.

PHILIPP GESSLER, 39, ist taz-Schwerpunkt-Redakteur