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Archiv-Artikel

Die feinen Unterschiede

NOUVELLE HISTOIRE Gefangen in der Geschichte: Fernand Braudels Vorlesungen in deutscher Kriegs- gefangenschaft

Die Gefangenschaft Braudels muss man sich als eine Art Zwangsurlaub vorstellen

VON MICHA BRUMLIK

Sowohl der Klimawandel als auch die nicht enden wollende Agonie der EU legen es nahe, das politische und soziale Geschehen weniger als eine Abfolge von Ereignissen denn als zähe Strukturen zu betrachten. Dass dieser Blick auch einen Teil der modernen Geschichtswissenschaft bestimmt, ist dem französischen Historiker Fernand Braudel zu verdanken, dessen monumentales Werk „Das Mittelmeer und die mediterrane Welt in der Epoche Philipps II.“ von 1946 auf Deutsch erst 1990 zugänglich wurde.

Das Werk kann als Gründungsschrift einer wissenschaftlichen Perspektive gelten, die sich nicht von großen Männern oder Frauen, von dramatischen Einschnitten wie Kriegen oder Regimewechseln bannen lässt. Ganz im Gegenteil interessiert sich diese – sich zunächst in Frankreich herausbildende – Schule historischen Denkens für die unauffälligen, dafür umso wirksameren Determinanten kollektiven menschlichen Handelns: für Geografie, für religiöse und zivilisatorische Prägungen sowie Formen des Wirtschaftens und der Eigentumsverhältnisse.

Jetzt ist es möglich, die konkreten Entstehungsbedingungen dieser Weise, zu denken, näher kennenzulernen. Der 1902 geborene Fernand Braudel geriet 1940 als Offizier der von der nationalsozialistischen Wehrmacht überrannten französischen Armee in den Vogesen in die Hände der Deutschen, um die nächsten fünf Jahre vor allem in Mainz und Lübeck in deutscher Kriegsgefangenschaft zu verbringen.

Lager als Universität

Freilich ist Kriegsgefangenschaft keineswegs gleich Kriegsgefangenschaft: Während sowjetische Kriegsgefangene von der Wehrmacht gegen alle Regeln der Genfer Konvention beinahe wie KZ-Häftlinge gehalten und zu Hunderttausenden in den Tod getrieben wurden, muss man sich die Gefangenschaft Braudels als eine Art Zwangsurlaub vorstellen; einen Zwangsurlaub, der durch intellektuell anregende Gespräche, das Halten von Seminaren sowie durch einen „Freigang“ gekennzeichnet war und das Entleihen von Büchern aus deutschen Bibliotheken gestattete.

In 1972 verfassten Erinnerungen notierte Braudel: „Dann aber kam der Krieg […] von 1940 bis 1945 war ich französischer Kriegsgefangener in Deutschland, zunächst bei Mainz und danach von 1942 bis 1945 in einem „Sonderlager“ bei Lübeck, wohin mich meine lothringische Aufmüpfigkeit gebracht hatte. Da ich diese langen Prüfungen unversehrt überstand, wäre es unnütz und sogar ungerecht, wenn ich mich darüber beklagen wollte.“ Zwei Jahre verbrachte Braudel unmittelbar nach seiner Gefangennahme im „Oflag XII b“ in der Mainzer Zitadelle, in einem centre universitaire, in dem auch Vorlesungen gehalten wurden.

Braudels Vorlesungen aus jener Zeit sind jetzt unter dem Titel „Geschichte als Schlüssel zur Welt“ auf Deutsch erschienen, Vorlesungen, die in einer Nussschale das methodologische Programm einer längere Zeiträume untersuchenden Strukturgeschichte enthalten.

Bei der Lektüre dieser Vorlesungen wird nicht immer klar, ob nicht einige von Braudels Äußerungen – neben frühen, tiefschürfenden Einsichten in die Globalisierung, die sich schon damals abzeichnete – auch opportunistische Konzessionen an das nationalsozialistische Deutschland enthalten oder ob sie Ausdruck einer tiefen, wenngleich sehr entrückten Überzeugung sind.

Nach einem Exkurs zur Expansion Europas im 16. Jahrhundert fährt der hinter Stacheldraht dozierende Gelehrte fort: „Heute jedoch, 1942, ist der Wohlstand gefährdet. […] Denn der gesamte Globus ist bekannt. Die Welt […] hat aufgehört, elastisch und deformierbar zu sein. […] In Wirklichkeit ist die Situation aber umso ernster, als ein unbarmherziger Kapitalismus, der über den Nahrungsraum der Welt verfügt und deren Zukunft aufs Spiel setzt, eine bedenkenlose Ausbeutung allein im Namen des Profits – eines unmenschlichen Profits – vornimmt.“

Dieser Blick gleicht – man schreibt das Jahr 1942 (!), in Tobruk wurde das deutsche Afrikakorps besiegt, an der Ostfront gingen Wehrmacht und SS gnadenlos und brutal gegen die sowjetische Armee und Zivilbevölkerung vor – einem Blick vom Mond; erstaunlich weitsichtig, aber auch – wie sollte es anders sein – beinahe unpolitisch. Nicht ganz. Es scheint, als ob Braudel die nationalsozialistische Großraumpolitik, wie sie etwa Carl Schmitt propagierte, vorsichtig kritisiert: „Um welche Zukunft“, fragt er sich und seine Hörer, „wird es gehen? Entweder die Zerstückelung der Welt in autonome Räume oder Planeten (großdeutscher Raum, großasiatischer Raum, englischer, amerikanischer, russischer Raum), oder die Beibehaltung oder auch Rettung der Einheit der Welt?“ Wobei man den Autor gerne fragen würde, welche Einheit er 1942 „beibehalten“ will.

Bernd Schöttlers Nachwort setzt sich eindringlich mit der Frage auseinander, inwiefern die Geschichtswissenschaft der longue durée nicht wesentlich von der existenziellen Situation Braudels, einer sich über fünf Jahre erstreckenden leeren Zeit, geprägt war. In dieser Situation, die sich vor allem durch die Unmöglichkeit jeglichen Handelns auszeichnet, rücken die kurzfristig nicht änderbaren Strukturen ins Zentrum der Aufmerksamkeit: die Geografie, die Kultur und – auch dies Ausdruck einer tiefen Verunsicherung –: „Rasse und Blut“, Braudel bezeichnet sie als „ethnische Tatsachen“.

Gewiss, auch in deutscher Gefangenschaft wurde Braudel nicht zum Rassisten, freilich ist eine Verunsicherung nicht zu verkennen. Indem er die Frage erörtert, ob es überhaupt Rassen gibt, glaubt er einräumen zu müssen: „In Frankreich sind wir trotz Gobineau geneigt, diese Frage negativ zu beantworten, vielleicht ein wenig zu schnell. Hier ergibt sich ein schwieriges Problem, auf das wir später noch eingehen müssen. Jedenfalls dürfte es heute schwerfallen, anhand von anthropologischen Studien eine Geschichte des Blutes in Nordafrika zu schreiben.“

Man mag sich fragen, wie gut Braudel mit der klassischen deutschen Philosophie vertraut war, in seinem autobiografischen Rückblick immerhin erwähnt er Hegel. Das ist in diesem Zusammenhang von Belang, weil Braudel in Hegel einen Vordenker seiner eigenen geohistorischen Perspektiven hätte finden können; in den Vorlesungen über die „Philosophie der Geschichte“ setzt sich Hegel ausdrücklich mit Klima und Landschaft auseinander: „In der kalten und heißen Zone kann der Boden weltgeschichtlicher Völker nicht sein. […] Der wahre Schauplatz für die Weltgeschichte ist daher die gemäßigte Zone.“ Das war um 1820. Wo aber wird sich heute, im Zeitalter des Klimawandels und des Pazifiks, die Weltgeschichte ereignen?

Es liegt nahe, HistorikerInnen danach zu unterscheiden, ob sie aus ihrer Situation heraus eher auf Veränderung oder Beharren setzen; ebenso nahe liegt die Vermutung, dass jene, denen es um Veränderung geht, sich eher für Krisen und Ereignisse interessieren, während andere, nennen wir sie Reformisten im weitesten Sinne, auf stetige Zeiten, Strukturen und Räume blicken. Strukturen ermöglichen Handlungen, Handlungen aber können Strukturen verändern. Als Braudel Strukturen untersuchte, war er handlungsunfähig.

Fernand Braudel: „Geschichte als Schlüssel zur Welt. Vorlesungen in deutscher Kriegsgefangenschaft 1941“. Hrsg./übers. v. B. Schöttler. Klett-Cotta 2013, 228 Seiten, 22,95 Euro