Unschuld und Sühne

BEFREIUNGSAKT Der Mörder gehört nun zur Familie dazu: Andreas Schäfer erzählt in seinem zweiten Roman glaubwürdig von einer schlimmen Tat und ihrer Bewältigung – „Wir vier“

„Sie haben ein riesiges Loch in unsere Familie gerissen und sich selbst hineingedrängt. Es gefällt mir nicht“

VON CHRISTOPH SCHRÖDER

Wenn Lothar, Ruth und Merten gemeinsam an einem Tisch sitzen, dann fehlt einer und ist zugleich immer präsent. Doch darüber wird nicht gesprochen. Es wird sogar höchst umständlich, demonstrativ und auf komplizierte Weise nicht darüber gesprochen. Lothar steht meistens irgendwann auf und widmet sich Alltagsdingen. Ruth muss oft etwas vorbereiten. Und Merten, Lothars und Ruths Sohn, war schon immer ein eher stiller Mensch, ganz anders als sein älterer Bruder Jakob: ein Draufgänger, ein Hoffnungsträger; Papas Liebling, der dessen Hobbys teilte.

Jakob Wilber ist tot. Achtzehn Jahre war er alt, als er in der Frankfurter Innenstadt erstochen wurde. Seitdem ist im gut situierten bürgerlichen Leben der Familie Wilber alles zusammengebrochen, vor allem die Kommunikation untereinander. Andreas Schäfer schlägt in seinem zweiten Roman, „Wir vier“, betont leise Töne an. Das tut dem Buch ausgesprochen gut – es heischt nicht nach der Sensation der Tat selbst, und es geht lediglich in Andeutungen den Motiven für den Mord nach. Jakob, der neben der Schule in einer Spielhalle gejobbt hat, hat sich möglicherweise auf krumme Geschäfte eingelassen. Mehr darüber zu erfahren ist nicht nötig. Schäfer setzt in seinem so konventionell wie psychologisch glaubwürdig erzähltem Roman Einzelbilder zu einer Stimmungslage vier Jahre nach Jakobs Tod zusammen. „Wir vier“ kreist um eine Leerstelle, die mit Schweigen einerseits und mit geradezu hektischem Aktionismus andererseits aufgefüllt wird – das Leben und seine tägliche Bewältigung werden an sich schon zur Last und zur permanenten Flucht vor den Tatsachen.

Lothar Wilber hat nach Jakobs Ermordung seinen Beruf als Pilot wegen eines Alkoholproblems verloren. Nun verbeißt er sich in das Projekt eines Segelflugplatzes im Odenwald; führt Verhandlungen mit den Besitzern, rodet die Wiese, schafft sein Flugzeug von der Rhön herüber. Oder er joggt oder reinigt seinen Swimmingpool. Geld scheint nicht das Problem zu sein. Ruth, die ehemalige Stewardess, hat sich – ausgerechnet! – der Telefonseelsorge zugewandt. Wenn man sich schon selbst nicht helfen kann, dann wenigstens anderen. Und Merten ist mittlerweile ausgezogen und versucht sich mit mäßigem Erfolg als Fotokünstler. Den tieferen Sinn seiner verwischten, gegenstandslosen Aufnahmen begreift so recht niemand.

Momentaufnahmen sind es auch, die Andreas Schäfer inszeniert; kurze Einblicke in ein traumatisiertes Leben. Das Überzeugende daran ist die Sprache, die der Roman, der kapitelweise aus jeweils wechselnder Perspektive erzählt ist, dafür findet.

Nur ganz selten neigt Schäfer zu einer etwas überaufgeladenen Bildsprache („es war so heiß, dass die Luft sich wie eine zähe Masse um seine Glieder schloss“); ansonsten läuft der Text auf subtile Weise auf einen Punkt zu, an dem er zwangsläufig aus dem Dauerzustand gegenseitiger Ignoranz herausführen muss: Ruth besucht, ohne das Wissen ihres Mannes, Jakobs Mörder im Gefängnis, nachdem sie einen Briefwechsel mit ihm begonnen hat.

Der Besuch ist ein geradezu novellistischer Höhepunkt des Romans, und an dieser Stelle scheint die Doppelbödigkeit seines Titels auf: „Sie haben“, sagt Ruth zu dem noch jungen und tumben Mann, „ein riesiges Loch in unsere Familie gerissen und sich selbst hineingedrängt. Es gefällt mir nicht. Es gefällt mir absolut nicht, aber so ist es: Sie gehören dazu.“ Es ist ein Befreiungsakt mit therapeutischer Wirkung, den Ruth vornimmt, wie überhaupt in „Wie vier“ eine Menge psychologischer Verschiebungen hinter den Kulissen ablaufen, ohne dass man das Gefühl haben müsste, einer allzu schematisch konstruierten Aufarbeitungsmaschinerie zuzuschauen.

Der in Berlin lebende Autor Andreas Schäfer ist in Frankfurt am Main aufgewachsen. Über seine Beschreibungen der Stadt und ihres Umlands lässt sich sagen, was für den ganzen Roman gilt: Es herrscht eine stimmige Mischung aus Atmosphäre und erzählerischer Distanz.

Andreas Schäfer: „Wir vier“. DuMont, Köln 2010, 188 Seiten, 18,95 Euro