Schandmauer unter blauem Himmel

WESTBERLIN I Der Hobbyfotograf Heinz Noack hielt das Leben westlich der Mauer fest. Als Bildband besticht „Durch die halbe Stadt“ durch Lakonie

VON BRIGITTE WERNEBURG

„An einem Sonntag im Spätsommer 1963 beginnt der Berliner Senatsmitarbeiter Heinz Noack seine Fotodokumentation von West-Berlin. Die ersten Aufnahmen entstehen in der Bayerischen Straße; hier steht das Haus, in dem er mit Frau und Tochter seit 1955 wohnt: ein klassischer Wilmersdorfer Altbau, Vorderhaus, mit einer gestreiften Markise über dem Balkon im dritten Stock.“ Im gleichen lakonisch-nüchternen Tonfall, in dem einst der Großvater seine Aufnahmen anlegte, leitet jetzt der Enkel Tobias Hellmann den Bildband „Durch die halbe Stadt“ ein, den er aus dem großväterlichen Nachlass zusammengestellt hat.

„West-Berlin in den Jahren nach dem Mauerbau“ lautet der programmatische Untertitel: Von Wilmersdorf führen seine Spazierwege Heinz Noack nach Charlottenburg, an den Ku’- damm, die Joachimstaler Straße und den Bahnhof Zoo, die Gegend also, die damals „Schaufenster des Westens“ genannt wurde. Im „Delphi“ in der Kantstraße, vor dem ein grüner VW Käfer parkt, läuft „Die Göttin der Rache“ mit Lex Barker und Senta Berger. Am Stuttgarter Platz ist der Käfer dann rot, im „Mascotte“ läuft „Angelique“, und die Fassaden über den Reklameschildern von Hotels, Spielhallen und Tabakgeschäften sind grau und mürbe. Dafür wird in der Hardenbergstraße und dem Ernst-Reuter-Platz Jacques Tatis „Playtime“ gegeben – so jedenfalls wirkt das Ensemble in Noacks Bildern, die wie filmische Sequenzen vor dem Betrachter abzurollen scheinen.

Heinz Noack war ein ambitionierter Hobbyfotograf. Der Jurist, der zuletzt als Regierungsdirektor dem Rechtsreferat des Wissenschaftssenators vorstand, kaufte sich Ende der 50er Jahre eine Voigtländer Vitomatic, mit der er verhalten bunte Bilder der Stadt aufnahm, meist in der Totalen und bei blauem Himmel. Es sind in den Straßen und Plätzen etwa von Tiergarten, Tempelhof oder Kreuzberg zwar immer Menschen unterwegs – trotzdem wirkt die Stadt, die gleichermaßen von Kriegs- wie Aufbauschäden gezeichnet ist, merkwürdig offen und leer. Paradoxerweise steigert sich dieser Eindruck noch dort, wo Stacheldraht, Eisenbarrikaden und die „Schandmauer“ (wie es auf dem Straßenschild einer Sackgasse heißt) jede Bewegung zum Halten bringen. Genau in dieser Leere und Weite liegt die größte Faszination dieses bezwingenden Bildbands: Zeitgeschichte, die in den unaufgeregten Aufnahmen Heinz Noacks unmittelbar evident wird.

■ „Durch die halbe Stadt. West-Berlin in den Jahren nach dem Mauerbau“. Edition Braus, Berlin 2013, 176 Seiten, 180 Abb., 29,95 Euro