Die Realität ist auch bloß ein Konstrukt

FOTOGRAFIE In Frankfurt ist die erste Retrospektive von Philip-Lorca diCorcia in Europa zu sehen

Manchmal bekommt man Einladungen zu Ausstellungen, von denen man glaubt, dass es sie doch längst gegeben haben müsste. Die Schau zum Gesamtwerk Philip-Lorca diCorcias in der Schirn Kunsthalle in Frankfurt gehört dazu – dabei ist sie die erste umfangreiche Retrospektive des Amerikaners in Europa überhaupt.

Bekannt ist diCorcia vor allem für seine Straßenszenen aus der Serie „Streetwork“. Die in den 1990er-Jahren entstandenen Fotografien zeigen Passanten in Metropolen auf der ganzen Welt. Manchmal verschmelzen sie mit dem Wirrwarr der Großstadt im Hintergrund, häufig liegt jedoch der Akzent auf einzelne Personen oder Gruppen. Nicht, weil sie etwas Besonderes machen, sondern weil sie von einem nicht zu verortenden, fast mystischen Licht erfasst werden wie Schauspieler auf einer Bühne.

Aus der Anonymität

Wir schauen uns einen Menschen an, den wir uns sonst nicht anschauen, dem wir ansonsten keinerlei Beachtung schenken würden. Er ist Teil der anonymen Masse und gleichzeitig isoliert ihn diCorcia in ihr. Dass sich die Personen zusätzlich vom Hintergrund abheben wie vor einer Fototapete, ist ebenfalls eine Folge des Lichts, das diCorcia auf den Straßen aufgebaut hat, ohne es zu verstecken: Ganz unbekümmert liefen die Passanten in sein Bild, weil sie dachten, es sei ein Filmset in der Mittagspause. PL, wie Philip-Lorca diCorcia kurz genannt wird, schuf so eine Art zweidimensionales Diorama, eine eingefrorene Wirklichkeit, wahrer als wahr und doch nicht real. Denn für PL ist die Realität immer auch ein Konstrukt.

Das hat er in seiner anknüpfenden Serie „Heads“, die ebenfalls auf der Straße entstanden ist, auf die Spitze getrieben. Zu sehen sind dort die Brustporträts von Fremden, hoch-frontal angeblitzt wie bei einem Modeshooting, was den urbanen Hintergrund dadurch ins Schwarze verhüllt. Reminiszenzen an Porträts aus dem Barock sind zu erkennen – nur, dass seine Protagonisten in sich gekehrt sind und sich nicht repräsentieren müssen. Schließlich wissen sie nicht einmal, dass sie fotografiert wurden. Das hat sich für diCorcia übrigens als unkalkulierbares Risiko herausstellt: Der orthodoxe Jude Erno Nussenzweig, den er in „Heads #13“ zeigt, hat ihn und seine New Yorker Galerie auf 1,6 Millionen Euro Schadensersatz verklagt. Das wurde vom Gericht mit dem Hinweis auf die Freiheit der Kunst abgelehnt, aber diCorcia ist nicht erst seit dem vorsichtiger geworden.

Für seine Serie „Lucky 13“, entstanden 2004, holte er sich bereits die Erlaubnis der Abgebildeten. Auf den fünf Bildern zu sehen sind nackte Stripteasetänzerinnen, die kopfüber an der Stange hängen – scheinbar schwerelos und merkwürdig verrenkt, was durch das unnatürliche Blitzlicht von oben zusätzlich absurd und verloren wirkt. „Lucky 13“ ist als Metapher auf die Vergänglichkeit des Körpers und des Glücks, aber auch auf die unsichere Lebenssituation der Dargestellten zu verstehen.

Männliche Prostituierte aus Los Angeles

Dass sich diCorcia mit Menschen am Rande der Gesellschaft beschäftigt, ist dabei nicht neu. Bereits für „Hustlers“, entstanden zwischen 1990 und 1992, fotografierte er männliche Prostituierte in Los Angeles. Gemeinsam mit seinen „Streetworks“ gehören diese Bilder zu den Höhepunkten der Retrospektive – nur mit dem Unterschied, dass LP in dieser Serie nichts dem Zufall überlassen hat. Erst hat er Locations gefunden und aufwendig arrangiert, dann ist er auf die Suche nach einem Modell gegangen. Auch hier entsteht eine Bühne, in denen die Protagonisten in hopperesker Einsamkeit auf ein besseres Leben warten. Im Bildtitel verrät diCorcia nicht nur Name und Alter der Modelle, sondern auch, wie viel Geld er ihnen für das Foto gezahlt hat.

In seiner noch unvollendeten Serie „East of Eden“ erinnert kaum noch etwas an den bislang bekannten diCorcia-Style. Die Bilder folgen jedoch fast immer dem gleichen Grundmuster – eine leicht aufsteigende Diagonale und eine gegenläufige Blickachse der Protagonisten: Der Cowboy zu Pferd in einer spektakulären Landschaft mit ausgetrocknetem Flussbett oder die Frau im Sommerkleid zwischen kahlen Baumsilhouetten. Es ist LPs skeptische Sicht auf die (amerikanische) Gesellschaft, die ihre Unschuld längst verloren hat. Damit steht er in der Tradition eines kritischen Realismus, wie es beispielsweise Mitch Epstein in „American Power“ und zuvor Joel Sternfeld in „American Prospects“ getan haben.

Gute Fotos, keine Frage, aber diCorcia bringt hier weder eine neue Sicht noch eine neue Bildsprache. Ausnahmen sind die Bilder von Innenräumen, in denen der Fernseher läuft: Auf dem schauen zwei Hunde in einem sehr aufgeräumt wirkenden Wohnzimmer einen Pornofilm, auf dem anderen schaut eine auf der Bettkante sitzende Frau aus dem Panoramafenster aufs Meer und den bewölkten Himmel hinaus, während auf dem Flatscreen die Welt in einem Wirbelsturm unterzugehen scheint. Das Foto ist eine Mischung aus Edward Hopper und Gregory Crewdson – und das mit Abstand stärkste Bild der Serie. Hier setzt LP wieder sein überraschendes Licht ein – und man hofft inständig, dass er damit niemals aufhören wird. DAMIAN ZIMMERMANN

■ bis 8. September, Schirn Kunsthalle, Frankfurt. Katalog (Kerber-Verlag) 36,- EUR