: Poetische Wissenschaft
ADORNO-VORLESUNG Reales und Fiktives bei Hegel
Das Frankfurter Institut für Sozialforschung und der Suhrkamp Verlag richten jedes Jahr die Adorno-Vorlesungen aus. Im letzten Jahr referierte der Soziologe Wolfgang Streeck zum Thema Kapitalismus und Demokratie. Diese drei Vorlesungen sind unter dem Titel „Gekaufte Zeit. Die vertagte Krise des demokratischen Kapitalismus“ als Buch erschienen. In diesem Jahr bestreitet der Literaturwissenschaftler Albrecht Koschorke vom 26. bis 28. Juni die Adorno-Vorlesungen mit dem Thema: „Hegel als Erzähler. Die narrative Verfasstheit der europäischen Moderne“.
Der 1958 geborene Koschorke studierte in München, Würzburg und Berlin und ist seit 2001 Professor für Neuere Deutsche Literatur in Konstanz. Er beschäftigte sich intensiv mit Medien- und Erzähltheorie und erhielt 2003 den Leibniz-Preis der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Zusammen mit Susanne Lüdemann, Thomas Frank und Ethel Matala de Mazza verfasste er zuletzt das Buch „Der fiktive Staat. Konstruktionen des politischen Körpers in der Geschichte Europas“ (2007).
Zunächst überrascht der Titel der Vorlesungen: „Hegel als Erzähler“. Der Philosoph selbst hätte die Idee einer „narrativen Verfasstheit der Moderne“ vermutlich als „dröselnde Erzählerei“ und „psychologische Kleinmeisterei“ (Hegel) ebenso abgelehnt wie die Vermengung der Gattungen Philosophie und Wissenschaft mit Fiktion und Poesie. Aber gerade an der gegenseitigen Durchdringung von Realem und Fiktivem, Faktischem und Imaginärem ist der theoretisch an Jacques Derrida und Friedrich Kittler geschulte Koschorke interessiert. Für ihn beruht „die soziale und politische Ordnung selbst auf einer Ordnung des Imaginären“ – Mythen, Legenden und Metaphern.
Der Nachweis, dass soziale Realitäten und politische Institutionen in rhetorisch-poetischen Verfahren produziert werden, ist nicht unproblematisch. So setzt Koschorke den Kult und die symbolischen Rituale um die Person der Monarchen im vorrevolutionären Europa als „metaphysisch“ auf eine Stufe mit dem „Diskurs der Verfassung“, die auf der normativen Kraft der Volkssouveränität beruht und nicht bloß auf Tradition, Gewalt und dem kruden Ritual der „Heiligkeit“ einer Person. Auf die Hegel-Interpretation Koschorkes ist man in Frankfurt, wo Hegel bislang nicht als „Erzähler“ galt, gespannt. RUDOLF WALTHER
■ Adorno-Vorlesungen, 26. 6. bis 28. 6., 18.30 Uhr, Uni Frankfurt, Campus Bockenheim, Hörsaal IV