: Eltern, Staat, Kind
Pflichtuntersuchungen könnten Misshandlung nur dann verhindern, wenn sich die ganze Gesellschaft für Kinder verantwortlich fühlt, sagt der Jurist Ludwig Salgo
taz: Greift der Staat mit Pflichtuntersuchungen zu stark in die Rechte der Eltern ein?
Ludwig Salgo: Nein, prinzipiell nicht, aber es kommt sehr darauf an, wie das formuliert wird und welche Sanktionen es gibt, wenn Eltern sich verweigern.
Sehen Sie ein Problem darin, wenn Ärzte das Nichterscheinen melden müssen?
Ärzte sind so etwas wie natürliche Partner der Eltern und auf sie angewiesen, ohne sie ist eine Behandlung nicht durchführbar oder erfolgreich, zum Beispiel, wenn Medikamente verordnet werden. Soll man diese Partner jetzt verpfeifen und ein Vertrauensverhältnis kaputtmachen? Das ist aber bereits jetzt schon eine schwierige Gewissensentscheidung für Ärzte, die aus gutem Grund in Deutschland nicht der Melde- sondern der Schweigepflicht unterworfen sind, gleichzeitig aber abwägen müssen, ob ein Kindeswohl gefährdet sein könnte. Insofern wäre das nicht problematischer als bisher.
Sie sagten einmal, man müsse dafür sorgen, dass Ärzte, Justiz und Ämter „entdämonisiert“ werden. Warum?
Wir hatten hier zwei Diktaturen in Deutschland, die Familie wurde instrumentalisiert, Justiz und Exekutive waren Teile diktatorischer Systeme, mithilfe der Jugendämter sind beispielsweise Kinder in Konzentrationslager gekommen. Da ist es kein Wunder, dass es Misstrauen gegenüber staatlichen Eingriffen gibt.
Wie äußert sich diese Vergangenheit?
In den ersten Jahrzehnten der BRD hat man in vermeintlich guter Absicht kaum in Sorgerechte eingegriffen und war sehr zurückhaltend. In den 60er Jahren änderte sich das, nicht zuletzt durch die Frauenbewegung, die gesagt hat, das Private ist politisch. Es ist aber immer noch so, dass Kinder in Deutschland „Privatsache“ sind und der Staat „sich gefälligst raushalten soll“. In anderen Ländern gibt es ganz selbstverständlich die Verantwortung der ganzen Gesellschaft für Kinder. In England zum Beispiel kommt der „health visitor“, der sieht zehn Tage nach der Geburt jedes Kind. In Deutschland würde man da erst einmal nach dem Dienstausweis fragen und den Nachbar verdächtigen, jemanden geschickt zu haben.
Wie viel Zwang ist erlaubt?
Es ist gar keine Frage, dass in einigen Fällen auch ein Hausbesuch angesagt ist, den man übrigens in schwierigen Fällen zu zweit machen sollte. Das Problem ist eher, dass das Postulat der Freiwilligkeit immer einen großen Stellenwert hatte. Schon in der Ausbildung der Sozialarbeiter wurde das häufig so vermittelt – mit manchmal fatalen Folgen. Es gibt nun aber einfach Eltern, die brauchen sozialisationsbedingt mehr Druck, um sich zu bewegen. Wir machen oft die Erfahrung, dass erst vor Gericht Hilfen angenommen werden, die vorher abgelehnt wurden.
Geht der Staat dabei auch manchmal zu weit?
Ja, er kann sich dabei auch vergaloppieren. Wir kennen das aus Entscheidungen zum Umgangsrecht. Da haben Richter Mütter zum Umgang der Kinder mit ihren Vätern gezwungen, obwohl die Mütter händeringend unter Beweisantritt dargelegt haben, dass massive Formen von häuslicher Gewalt stattgefunden haben und wo die Richter gesagt haben, das war doch nur gegen die Mütter. Wir haben hier sogar Todesfälle zu beklagen.
Interview: Eiken Bruhn