: Popkulturelle Großfamilie
Nur einmal echter Rock of Ages: Temples „Glastonbury“ und Gondry’s „David Chapelle’s Block Party“
David Bowie war einer der ersten Musiker, die in Glastonbury aufgetreten sind. Damals muss sein Song „Memories Of A Free Festival“ ein ziemlicher Renner unter Hippies gewesen sein. Doch von Bowies Performance 1971 hat Julien Temple für seine Dokumentation keine Archivaufnahmen gefunden. Stattdessen sieht man ihn 30 Jahre später als smarten Entertainer, der vor gut 100.000 Besuchern „Heroes“ singt: Es feuerwerkt über der Bühne; ein schöner Abend für die popkulturelle Großfamilie auf dem mittlerweile einige hundert Hektar umfassenden Gelände.
Das „Free Festival“ ist ein Mythos, der seit Woodstock immer wieder auf Schallplatten, in Radio- und Fernseh-Features oder auf MTV reproduziert wurde. Natürlich stimmt das Versprechen nicht: „Woodstock“ war als Doppel- und Dreifach-LP eine Gelddruckmaschine für das Atlantic-Label, und 2005 kosteten Tickets für drei Tage Glastonbury 125 Pfund. Entsprechend macht Temple, der vom Punk kommt, auch keinen Hehl daraus, dass er mit der Festivalisierung einige Probleme hat. Da ist allen voran Michael Eavis, der als junger Bauer 1970 erstmals auf seinem Anwesen Bands auftreten ließ und Glastonbury heute als Unternehmen führt – Sicherheitszäune, Videoüberwachung und stiernackige Ordner inklusive. Immer wieder lässt der Film Eavis erzählen, wie aus einer prima Idee ein Stück Gegenkulturindustrie wurde.
Nun ist es aber ja gerade Sinn von Mythen, dass sie Ereignissen eine Form geben, die nicht bloß mit Fakten, sondern mit Fantasien und Begehrlichkeiten korrespondiert. Von dieser stillen Übereinkunft mit den Fans profitiert Temple ebenso wie Michel Gondry, der in seinem Film „David Chapelle’s Block Party“ den guten Geist von HipHop dokumentiert. Das Spektakel, bei dem Kanye West, Erykah Badu oder Fugees 2004 in Brooklyn am Start waren, ist jedoch ein ganz und gar für die Kamera angelegtes Paradies. Vor ausgewähltem Neighbourhood-Publikum wird eine Urszene des Rap nachgestellt – Kids von der Straße, im Wettstreit vereint.
Es ist eine Community auf Abruf: Als Conferencier albert Chapelle in der Comedy-Nachfolge von Richard Prior herum, das Konzert erinnert derweil schwer ans Wattstax-Festival, das 1972 maßgeblich für das afroamerikanische Selbstbewußtsein war. Nun lautet die versöhnende Botschaft „Say Ho!“, brav reichen die Acts sich das Mikro weiter, vom Kran aus wird ein hübsches Dreadlocknest herangezoomt. So versucht sich die Block Party an einer Illusion von Togetherness, der angesichts hart kämpfender Business-Typen wie 50 Cent auch etwas rührend Nostalgisches anhaftet.
Dagegen ist Temples Dokumentation ein monumentaler Rausch und echter Rock of Ages. Nicht wegen der Musik, nicht wegen der Stars, sondern wegen der schier nicht enden wollenden Fülle an Leben, die hier gezeigt und im Zeigen erzeugt wird. Wo sonst bei Konzertfilmen das Publikum als Masse nur zu ein, zwei Frontalen und langweiligen Schwenks taugt, sieht man plötzlich massenhaft Individuation: kiffende Freaks, Magier und Straßenclowns, die unzähligen Selbstdarsteller, die Nackten, die Verwirrten und die busladungsweise mit Palettenbier anreisenden Feierschweine aus den Londoner Arbeitervierteln. Temple hat für alle ein Auge, niemand wird von seinen gleich im Dutzend filmenden Kamerateams ausgeschlossen. Sie sind die Helden, denen Bowie zum Höhepunkt von „Glastonbury“ sein Lied widmet.
HARALD FRICKE
„David Chapelle’s Block Party“. 15. 2., 20 Uhr, Babylon; 19.2., 17 Uhr, CineStar