: „Damals ging alles, und keiner hatte Geld“
DER KULTURMANAGER Dimitri Hegemann ist ein Urgestein der Berliner Technoszene: Der Gründer des Fischbüros und des Tresors versorgt die Stadt seit mehr als 35 Jahren mit neuen Ideen. Er hat Ausstellungen ins Leben gerufen, Festivals nach Berlin geholt und One-Way-Trips ins All verkauft – und immer dafür plädiert, weder sich selbst noch das Leben allzu ernst zu nehmen
■ Der Mann: Dietmar-Maria Hegemann wird 1954 in Werl in Nordrhein-Westfalen geboren. Er studiert Musikwissenschaften in Münster und kommt 1977 nach Berlin.
■ Die Vergangenheit: Er wird Bassist der Band Leningrad Sandwich, mit der er 1982 bis 1985 drei Alben veröffentlicht. Bis 1990 organisiert er das Musikfestival Berlin Atonal, wo unter anderem die Einstürzenden Neubauten und Psychic TV auftreten. 1987 eröffnet er den Experimentierraum Fischbüro, 1991 den Tresor in der Leipziger Straße, der sich auch wegen der dazugehörigen Plattenfirma schnell zu einem der bekanntesten Technoclubs der Welt entwickelt. Hegemann ist zudem an der Eröffnung der Restaurants Markthalle sowie Schwarzenraben und des Clubs Trompete beteiligt.
■ Die Gegenwart: Nach dem Aus des Tresors in der Leipziger Straße 2006 eröffnet er 2007 den neuen Tresor im ehemaligen Heizkraftwerk Mitte, einem Riesenbau, den er seitdem in einen Kulturraum umwandelt. Er nennt sich am liebsten Raumforscher, Ideengeber oder Kulturmanager. (sm)
INTERVIEW SUSANNE MESSMER FOTOS WOLFGANG BORRS
taz: Herr Hegemann, warum liegen denn hier überall Gummibärchen?
Dimitri Hegemann: Möchten Sie welche?
Immer.
Bei Haribo im Onlinestore kann man sortierte Bärchen kaufen, also zum Beispiel ein Kilo weiße. Ich war jahrelang sauer, dass es das nicht gibt, und habe denen Briefe geschrieben. Jetzt haben sie es endlich gemacht. Die weißen schmecken mir am besten, am liebsten aus dem Eisfach. Deshalb habe ich die schon alle weggefuttert. Aber ich hätte noch grüne und gelbe im Angebot.
Grüne, bitte. Was beschäftigt Sie außer Gummibärchen sonst noch so?
Vor allem mein Kraftwerk und seine Umwandlung in einen Kulturraum. Ich begreife mich ja als Raumpionier. Ich entdecke Räume, erforsche sie, und weil sich dann keiner rantraut, erschließe ich sie auch selbst. So schafft man sich große Themen, mit denen man jahrelang zu tun hat.
Sind Sie dabei manchmal blauäugig?
Zum Glück, sonst hätte ich das Kraftwerk nie angefasst. In Berlin muss man so an Projekte rangehen: voller Faszination und Euphorie, sonst würden die gar nicht geschehen. Und dieser Raum ist etwas ganz Besonderes. Er ist einer der letzten unfertigen Räume dieser Dimension in Berlin, ein Sehnsuchtsort für viele: Hier ist alles möglich.
Sie betreiben im Kraftwerk den Nachfolger Ihres Technoclubs Tresor, versuchen aber auch noch andere Dinge.
Der Tresor ist nur eine kleine Welt im großen Kraftwerk. Ich hatte zum Beispiel kürzlich die Idee, dass man in einem Club auch Musik im Liegen hören könnte. Wir hatten dann ein Soundsystem aus 800 Lautsprechern, mit dem von allen Seiten verschiedene Frequenzen zu hören waren. Damit habe ich einen Pink-Floyd-Abend gestaltet. Die Macher vom Architekturbüro Raumlabor haben eine Stadtmatratze entworfen, ein großes Bett, das aus Hunderten von Hüpfbällen besteht. Da lagen dann alle drauf und haben Pink Floyd mal anders wahrgenommen.
Die Leute haben wahrscheinlich richtig abgehoben …
Ich hatte tatsächlich schon die Idee, die Bälle mit Helium zu füllen. Das würde dann in Richtung fliegender Teppich gehen.
Wie kamen Sie eigentlich zu Ihrem Kraftwerk?
Ich dachte zuerst an Licht. Ich hatte eine Installation des Künstlers James Turrell besucht, einen Vulkankrater mit unterirdischen Gängen und Lichtinstallationen mitten in der Wüste. Dieser Besuch hat mich verändert und mir Mut gegeben, auch mal selbst etwas Großes zu wagen: das Kraftwerk halt. Dann habe ich einen Experimentierraum für große Projekte gesucht: eine funktionierende Ruine, die zu Berlin passt.
Vermissen Sie manchmal die Stahlkammer des alten Tresors?
Die Zeiten ändern sich. Wir waren damals in den 90ern am richtigen Ort zur richtigen Zeit und haben etwas auf den Punkt gebracht. Es war ein großer Fehler des Senats, das Grundstück Anfang der nuller Jahre zu verkaufen.
Was hätten Sie gern dort gesehen?
Wir wollten auf den alten Keller des Tresors einen Tower setzen und hätten 2.000 oder 3.000 Quadratmeter verpachtet: an kleine Verlage, Friseure, Schuhläden, Galerien, Philosophen. Das hätte dort Leben hingebracht, alles beflügelt. Und jetzt haben wir stattdessen Leerstand und ein riesiges Plakat, auf dem steht „Shopping is Coming Home“.
Wie geht es der Plattenfirma Tresor?
Wir sind jetzt im 23. Jahr und haben natürlich auch unter dem Zusammenbruch der Musikindustrie gelitten, das war schon frustrierend. Heute organisieren wir Veranstaltungen im Ausland. Die Marke Tresor funktioniert, sie verkörpert einen Lifestyle.
Hat der noch etwas damit zu tun, was man heute mit Techno verbindet?
Eigentlich nicht. Techno ist stark kommerzialisiert worden. Es gibt so viele Veranstaltungen, bei denen es nur um Profit geht. Alles ist egal, Hauptsache, man kommt zu seinen Dollars.
Woher kommt bei Ihnen dieser widerständige Geist, alles anders machen zu wollen?
Für mich liegen die Wurzeln von Techno in der Westberliner Sub- und Gegenkultur. Das war ein Sammelbecken für die Freidenker, verrutschte Intelligenz, wie ich sie immer nenne. Ich war unheimlich stolz, als ich 1977 meinen Wohnort in Berlin anmeldete.
Sie kamen aus der Provinz?
Ich komme aus Westfalen und gehörte zu all jenen Dorftrotteln, die hier mit ihren Träumen anders leben wollten und etwas Neues entwickelt haben. Plötzlich ging alles, aber keiner hatte Geld.
Sie sprechen vom Fischbüro?
Ich schreibe gerade ein Buch übers Fischbüro, meinen ersten Laden hier. Das Fischbüro ist immer wieder der Ausgangspunkt, die wichtigste Zeit meines Lebens und der Prototyp für alles, was danach kam.
Warum?
Wir haben bewiesen, dass jeder Konsument ein Produzent ist, dass sich alles jederzeit drehen kann und dass einen nur die Verbindung von Inhalt und Witz weiterbringt. Dass man nicht alles so ernst nehmen muss.
Zum Beispiel?
Es war immer voll im Fischbüro, aber wenn der Postbote mit den gelben Briefen an Frau Fisch kam, war die natürlich nie zu fassen. Wir haben wunderbare Walzerabende gestaltet, aber kaum jemand konnte tanzen. Wir haben auch Vorbereitungskurse gemacht für einen One-Way-Trip ins Outer Space mit einem Raumschiff, bei dem die Außerirdischen noch 60 Plätze frei hatten und die dem Fischbüro exklusiv angeboten. Die Plätze waren sofort weg, und die Leute sind dann fröhlich abgeflogen. Ich habe niemanden je wiedergetroffen.
Aus diesem Geist ist Techno entstanden?
Ja, so ist das oft in meinem Leben: Ich gehe los und will Brötchen kaufen, und dann komme ich mit einer Kaffeemaschine nach Hause. Als die Mauer fiel, kam plötzlich der Raum ins Spiel. Und all die Kulturagenten, die keinen Pfennig in der Tasche hatten, sprangen nach Ostberlin und fanden dort irgendeinen Raum und machten irgendwas. Betrachtet man das Schaffen aller, dann ist damals in Berlin etwas in Gang gesetzt worden, das die Stadt bis heute prägt und so attraktiv für junge Europäer macht. Alle wollen kommen und an diesem Schwung mitwirken und etwas geben.
Sind Sie damit zufrieden?
Neulich sagte mir jemand, dass wir zu jenen gehören, die mit Techno die letzte große Jugendbewegung des 20. Jahrhunderts angestoßen haben. Wir haben bewiesen, dass es geht und dass Berlin der richtige Standort ist. Die Off-Kultur hat hier einen stärkeren Stellenwert als die Mainstream-Kultur. Wenn man an diesem Mix mitgerührt hat, dann freut sich man ein wenig.
Sind Sie manchmal auch weniger zufrieden?
Es gab natürlich auch viele Geschichten des Scheiterns. Aber ich habe gerade zu wenig Zeit, mich mit den Katastrophen zu befassen. Jetzt blicke ich erst einmal zuversichtlich auf die Projekte der Zukunft. Das Atonal Festival für nonkonforme Musik, das ich schon 1982 bis 1990 organisierte, wird im Juli wiederbelebt.
Und was noch?
Ich bin ja nie auf ein Projekt fixiert. Zum Beispiel bin ich bei einem Kunstverein in der Uckermark dabei, der alle zwei Jahre ein schönes Festival organisiert. Einer der Sponsoren ist die PCK Raffinerie in Schwedt, die schon zu DDR-Zeiten ein großer Kraftstofflieferant war. Wegen des Kunstfestivals wurde ich eines Tages von denen eingeladen. Und fand in den Kellern eine Menge alter DDR-Staatskunst mit rauchenden Schloten, Schweißern, glücklichen Familien.
Lassen Sie mich raten: Die konnten Sie nicht im Keller stehen lassen.
Ich habe sie abfotografieren lassen und eine Ausstellung damit angeschoben. Das wurde dann plötzlich laut Presse die größte Ausstellung von DDR-Kunst am Kunststandort London. So kam ich wiederum mit der Stadtverwaltung in Schwedt ins Gespräch, die sich wunderte, warum so eine Ausstellung stattfand.
Und dann?
Dann bin ich einfach mal nach Schwedt gefahren und habe nach Off-Kultur gefragt – das, was eine Stadt zum Glänzen bringt. Da gab es fast nichts. Nicht mal ein Programmkino, nur einen kleinen, fleißigen Club, der sich quält.
Schwedt ist eine schrumpfende Stadt.
Genau. Ich erzählte also dem Bürgermeister: Die junge Intelligenz, die zwei, drei potenziellen Macher und Querdenker pro Jahrgang, die finden hier keine Plattform, an der sie andocken können. Sie werden nicht ernst genommen und gehen deshalb nach Berlin.
Und daran wollen Sie die jungen Leute hindern?
Man muss diesen Leuten einen Raum geben. Ich habe also ein Team zusammengestellt, einen Workshop organisiert und den jungen Leuten drei Fragen gestellt: Was stört dich hier? Was magst du? Und: Was würdest du am liebsten machen? Sie wollten zunächst einen unabhängigen Treffpunkt, einen Dada-Laden, eine Denkerei schaffen. In einem alten Supermarkt oder einer andere Ruine zum Beispiel.
Sind Sie da Entwicklungshelfer?
Ja, ich mache kulturelle Entwicklungshilfe. Kultur ist der Schlüssel. Ohne Kultur und Gegenkultur verkümmert der Geist, verliert die Stadt an Licht, alles wird grau und langweilig. Das Kernproblem ist die Realitätsferne der Entscheidungsträger: Sie trauen den jungen Menschen nicht viel zu. Das zu verändern ist ein langwieriger Prozess, aber ich bleibe am Ball.
Wie kommt es zu diesem Interesse an der Provinzjugend?
Ich komme selbst aus der Provinz und wäre eigentlich gern geblieben. Einerseits wollte ich Musiker werden und um die Welt reisen. Aber ich wollte auch in einer alten Burg oder einem alten Haus mit Kamin leben. Alternative Lebensformen auf dem Land, das hätte mir sehr gefallen.
Sie waren eine Art Hippie?
Absolut. Ich wäre gern in Woodstock dabei gewesen, aber damals war ich erst 13. Als ich später versuchte, diesen Gedanken zu leben, wurde mir sehr deutlich mitgeteilt, dass ich störe.
Von wem?
Mit 19 habe ich mal einen tollen Job bekommen. Ich bin für ein paar amerikanische Jazzmusiker Tourneen gefahren, von Marseille bis Helsinki. Unterwegs erzählten die mir tolle Geschichten aus Amerika, ich war hellauf begeistert. Als ich wieder nach Hause kam, war das Erste, was mir mein Vater sagte: Ich solle doch bei meinen Interessen am besten Fernfahrer werden.
Er hat Sie nicht verstanden?
Nein. Mein Vater war 1939 eingezogen worden, mit 22. Zehn Jahre später kam er aus Russland zurück und hat nie darüber geredet. Später wurde er Direktor der Volksschule in dem Dorf, in dem wir lebten.
Hatten Sie Konflikte?
Ich habe vier Geschwister, wir hatten eine wunderschöne Kindheit, so geordnet und mit richtigen Weihnachtsfeiern. Aber wir wuchsen auch streng katholisch auf. Man musste sich dauernd schuldig fühlen. Bis in die Oberstufe meines Jungengymnasiums hinein war ich nicht aufgeklärt. Mit 18 habe ich ein Kind bekommen, und die Mutter war sogar noch jünger. Das war in meinem Dorf eine Katastrophe und ein Alptraum für meinen Vater. Ich musste zeitweise von zu Hause flüchten.
Sind Sie immer der bunte Hund geblieben?
Ich hätte eigentlich auch ganz gern eine heile Familie gehabt, aber dazu war ich lange Zeit zu unruhig. Trotzdem: Ich habe drei Kinder, mit denen ich nicht gelebt habe, mit denen ich mich aber heute gut verstehe.
Wie soll es weitergehen mit Ihnen?
Ich habe mal darüber nachgedacht, in Brandenburg ein Altenheim anzustoßen. Ein Mehrgenerationenhaus für Leute wie uns, die anders gelebt haben. Andererseits lassen mich meine Ideen nicht los. Ich glaube, ich werde immer weitermachen.