: „Man hat nicht aufgepasst“
Doping-Analytiker Wilhelm Schänzer erklärt, warum im Lager der Langläufer gehäuft Schutzsperren verhängt werden und was es mit Carphedon auf sich hat, dem Dopingmittelchen, das die russische Biathletin Olga Pylewa eingenommen hat
INTERVIEW MARKUS VÖLKER
taz: Neben der Deutschen Evi Sachenbacher-Stehle wurde in Turin eine Reihe von Langläufern mit einer Schutzsperre wegen hoher Hämoglobinwerte belegt, zuletzt die Russen Nikolai Pankratow und Natalja Matwejewa. Warum ist das so?
Wilhelm Schänzer: Der Skiverband Fis hat niedrigere Werte festgelegt als die Biathleten und Eisschnellläufer. Deshalb wundert mich das nicht. Sehr viele Athleten sind im Vorfeld der Spiele in der Höhe gewesen. Dort steigt der Hämoglobin-Wert.
Erlaubt sind bei den Frauen 16 Gramm Hämoglobin auf 0,1 Liter Blut, bei den Männern 17. Wie sind die Normalwerte?
In der weiblichen Bevölkerung würden laut Statistik 2,5 Prozent über dem Wert von 16 liegen.
Die Fis hat vor vier Jahren einen Mittelwert von 15,1 bei männlichen Skilangläufern (Normalpersonen 14,8) gemessen – mit vereinzelten Ausreißern bis 18,1 bei Sportlern und 16,0 bei Nichtsportlern.
In solche Werte kann man viel hineininterpretieren.
Der Chef der Welt-Anti-Doping-Agentur Wada, Dick Pound, sagte nach der Flut von Schutzsperren: „Ich glaube, wir haben es mit Doping zu tun.“
Wenn man meint, dass diese Werte mit Doping zusammenhängen könnten, dann muss man weiter untersuchen und diese Athleten häufiger kontrollieren. Man sollte keine Pauschalurteile fällen. Erst wenn eindeutig Doping nachgewiesen ist, wird der Athlet belastet.
Aber hellhörig wird man schon, gerade durch die Häufung der Sperren.
Das müssen die Verbände weiter untersuchen. Generell gerät jetzt jeder Gesperrte in Verdacht, etwas mit Doping zu tun zu haben.
Warum sind die Grenzwerte der Langläufer strenger, früher lagen sie bei 16,5 bzw. 17,5?
Ich denke, man wollte eine höhere Abschreckung haben. Dadurch besteht die Gefahr, dass mehr Athleten über dem Grenzwert liegen.
Macht diese Grenze Sinn, wenn viele mit Ausnahmegenehmigungen an den Start gehen wegen angeblich genetisch bedingt hoher Werte?
Es gibt diesen Grenzwert. Mit diesem Instrument sollten wir Dopinganalytiker arbeiten – und weitere Kontrollen veranlassen, die dann gezielt Epo-Doping nachweisen könnten. Der Wert dient ja auch dazu, Athleten zu verunsichern – wenn sie denn dopen sollten.
Sollten Blut-Langzeitprofile veröffentlicht werden?
Ich bin strikt dagegen. Ich kenne das von der Analytik: Werte schwanken. Da interpretiert jeder hinein, was er will. Mit analytischen Daten muss man generell vorsichtig umgehen. Man muss vieles beachten: Wann wurden die Proben genommen? Wo war der Athlet vorher, in der Höhe etwa? Kollektivdaten kann man aber publizieren.
Gilt es nicht als Indiz, wenn ein Blutwert plötzlich hochschnellte?
Ja, klar ist das ein Indiz. Aber solche Indizien werden nach meinen Erfahrungen vor keinem Gericht der Welt standhalten, um einen Dopingverstoß nachzuweisen. Mit Indizien können wir keinen Anti-Doping-Kampf führen. Man kann solche Werte als Anlass nehmen – und die Langzeitprofile noch intensiver untersuchen.
Die russische Biathletin Olga Pylewa wurde positiv auf die Substanz Carphedon getestet. Was bewirkt dieses Mittel?
Das ist vor einem Jahr auch bei Danilo Hondo [deutscher Radprofi; d. Red.] gefunden worden. Es ist eine Substanz, die in Russland hergestellt worden ist, ein Neurotropikum, das die Hirnleistung beeinflussen soll, sodass man Kältephänomene besser ertragen kann. Entwickelt wurde es wohl für Soldaten und Raumfahrer. Wir haben aber auch immer vermutet, dass es ebenso für Sportler entwickelt worden ist.
Für Sportler?
Es tauchte 1990 auf und wurde in die Dopingliste aufgenommen. Interessant ist, dass es zurzeit in Russland unter dem Namen Phenotropil vertrieben wird. Ein Kollege aus Russland sagte mir, dass es keinen Hinweis auf der Phenotropil-Packung gibt, dass Carphedon darin enthalten ist. Wenn das stimmt, müsste die Wada neben Carphedon auch Phenotropil in ihrer Liste erwähnen.
Pylewa könnte dieses Medikament eingenommen haben?
Das ist nicht auszuschließen. Warum sollte ein Athlet vorm Wettkampf Carphedon nehmen, wenn er weiß, dass dies eine Dopingsubstanz ist. Ich denke, man hat da nicht aufgepasst.
Werden nur noch Doping-Dussel erwischt?
Athleten haben oft Probleme mit dem Reglement. Das haben wir auch zuletzt mit Finasterid gesehen, dem Haarwuchsmittel.
Rechnen Sie mit weiteren Dopingfällen während der Spiele?
Das ist offen. Fälle können immer auftreten. In der Häufigkeit lagen wir immer bei 1 Prozent positiver Proben. Bei Großveranstaltungen ist der Prozentsatz allerdings geringer. Das wird auch in Turin so sein. In Athen hatten wir 23 positive Fälle bei über 3.000 Proben.