Vom Wir der Gestrigen

ERWECKUNG Homosexualität ist begehrenswert, sagt der Philosoph Michel Foucault. Er öffnet damit einer Generation von schwulen Männern die Augen

VON ELMAR KRAUSHAAR

Soll man darüber reden? Über die Gesten, die Blicke, die Worte? Über das, was Freunde miteinander teilen? Einmal ausgesprochen, wäre die Gewissheit dahin, dass nichts und niemand sie jemals würde trennen können.

Wir hatten keine Bilder, als wir das entdeckten, was sie Homosexualität nannten. Nur die Erfahrung von Angst und Versteck, von Spott und Scham. Wir waren überzeugt, dass wir Verfolgte seien, vielleicht krank, manchmal verrückt. Unsere Eltern warnten davor, im Alter vereinsamt als Freier auf dem Strich zu landen.

Bis wir uns zusammensetzten. Ein Film hatte es vorgemacht, das letzte Bild in „Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt“. Wir im Kreis auf einem Bett, palavernd, streitend, uns versöhnend. Wir konnten uns ansehen, ohne rot zu werden. Wir konnten einander zuhören. Alles schien möglich. Nie mehr wollten wir im Dunkel vor einer Kneipe stehen mit Klingel und Türspion. Keiner sollte mehr Angst haben, seinen Job zu verlieren, weil er schwul war. Wir würden neue Bücher schreiben, neue Lieder singen, neue Filme drehen, in denen wir vorkamen. Nur wir, wir, wir.

Was für ein Trugschluss! Es interessierte überhaupt niemanden, was vorging mit uns. Das Einzige, was wir ihnen klauen konnten, war das Wörtchen „schwul“. Damit wollt ihr uns beleidigen – das zog nicht mehr. An die Brust geheftet trugen wir kleine rosa Winkel. Wir wohnten in einer Fabriketage mit mobilen Wänden. Um einen Tisch saßen wir zusammen und diskutierten, bis uns die Bilder überfluteten und keine Ruhe mehr ließen. Immer noch Opfer, waren wir in einer Sackgasse gelandet und warteten auf irgendwas von außen, das keiner bereit war zu geben.

Bis wir auf Michel Foucault stießen, auf „Von der Freundschaft als Lebensweise“, ein Gespräch, das der Philosoph mit Vertretern der französischen Schwulenzeitschrift Gai Pied geführt hatte. Was für ein Paukenschlag: „Homosexualität ist keine Form des Begehrens, sondern etwas Begehrenswertes.“ Und noch einer: „Es liegt an uns, zu einer homosexuellen Askese zu gelangen, die uns an uns selbst arbeiten und eine Lebensart erfinden läßt, die noch unwahrscheinlich scheint.“ Und einer noch: „Schwul sein heißt nicht, sich mit den psychologischen Zügen und den auffälligen Masken des Homosexuellen zu identifizieren, sondern heißt, eine Lebensweise zu bestimmen und zu entwickeln versuchen.“

Uns stockte der Atem und alte Überzeugungen machten sich aus dem Staub. „Das Problem der Homosexualität entwickelt sich mehr und mehr zu einem Problem der Freundschaft.“ Unsere Liebe machte vor keiner Mauer halt, und wir teilten den Rauch einer Zigarette durch einen Strohhalm von einer Zelle zur nächsten. Diese Szenen aus „Un chant d’amour“ von Jean Genet wurden unsere Begleitmusik, die Poesie jenes filmischen Liebeslieds von 1950 berauschte uns mehr als jeder Aktivistenaufruf. Wir gehörten uns, und an Wände schrieben wir „Nennt uns nicht mehr Schwule!“ Schluss mit der Kumpanei von groß und klein, von Minderheit und Mehrheit, von draußen und drinnen.

Die Zeit geht aber weiter, wir wohnen jetzt in kleinen Wohnungen mit festen Wänden. Wenn wir heute zusammenkommen, blicken wir nicht mehr nach vorne. Aus dem Palaver ist ein Lamento geworden. Längst sind wir dahin zurückgekommen, vor dem wir einst geflohen waren. Die Mehrheit lassen wir glauben, dass wir auch Verantwortung füreinander übernehmen, damit sie uns mögen. Unsere Kinder müssen als Erstes geloben, dass sie auf keinen Fall homosexuell werden. Die heterosexuelle Lebensform ist keine Alternative, keiner von uns hat geheiratet oder Kinder gezeugt. Trotzdem lassen wir uns mitreißen von dem Gerede über Ehegattensplitting und Adoptionsrecht. Als gebe es dem nichts entgegenzusetzen. Nein, wir haben keine neue Lebensart erfunden.

Unsere Sexualität ist verschollen, untergegangen in einer Flut von Bildern und Fetischen, fremden Häuten und formatierten Gesten. Wir signalisieren maximale Männlichkeit, sobald wir uns in die Freiheit der Gehege unserer Subkultur bewegen. Das Schicksal des einsamen Freiers ist uns erspart geblieben, dafür sind unsere Köpfe kahl geschoren, und unser Übergewicht infantilisieren wir als chubby. „Die Leute stört nicht etwa, daß sie sich einen Geschlechtsakt vorstellen, der nicht dem Gesetz oder der Natur entspricht“, hatte Foucault gesagt. „Das Problem entsteht vielmehr erst, wenn jene Individuen sich zu lieben beginnen.“ Das haben wir verpasst.

Auch die Tunte haben wir nicht retten können, und das Alter verachten wir Alten genauso wie jede Generation homosexueller Männer vor uns und nach uns. Nein, nichts ist an unserer Homosexualität „aufregend“, wie Foucault sie einst sehen wollte. Entstanden ist ein „heiles Bild von der Homosexualität […]: es entspricht einem gängigen Schönheitskanon und tilgt alles, was an der Zuneigung und der Zärtlichkeit, der Treue und der Freundschaft, der Kameradschaft und der Partnerschaft beunruhigend sein könnte – an Werten, denen eine schon leicht angeschlagene Gesellschaft keinen Platz mehr zugestehen kann, ohne zu fürchten, daß daraus Bindungen entstehen und Kraftlinien sich unerwartet miteinander verknüpfen“. Die Bindungen sind geblieben, weil uns sonst niemand zuhören würde. Die Kraftlinien sind gekappt, verlaufen dahin, wo eine Wüstenei sich breitmacht, eine große Unordnung. Nichts, vor dem wir fliehen müssten, bekämen wir ein nächstes Leben geschenkt.