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Archiv-Artikel

Mehr Verwirrung bitte!

Der Wettbewerb der Berlinale favorisierte das politische Kino – zeichnete aber leider vor allem dessen allzu selbstgewisse oder grundanständige Spielarten aus. Der deutsche Film gehörte dagegen zu den erfreulichen Seiten des Festivals – immerhin

VON CRISTINA NORD

Esma geht einkaufen. Im Fischgeschäft fährt der Verkäufer mit einem Netz ins Aquarium und holt eine Forelle aus dem Wasser. Der Fisch windet sich auf einem Holzklotz, bevor der Verkäufer ihn erschlägt. Ein dumpfes Geräusch ist zu vernehmen; offenkundig reißt es Esma aus Gegenwart und Alltag heraus und trägt sie fort in eine schattenreiche Erinnerungswelt.

Die Szene stammt aus „Grbavica“, dem Langfilmdebüt der 32 Jahre alten bosnischen Regisseurin Jasmila Žbanić. Er lief im Wettbewerb der Berlinale und erhielt am Samstagabend überraschend den Goldenen Bären. Für sich genommen, ist die Szene stimmig, eine unaufdringliche Metapher für das, was sich in Esmas Leben ereignet hat. Sensibel wird beobachtet, wie das Geräusch des Schlags die Protagonistin aus der Ruhe bringt, wie die scheinbar geordnete Gegenwart die Kontur verliert und die Verletzung der Vergangenheit zurückkehrt, transportiert von dem Geräusch. Wie hier ein Zufall über das Leben einer der Forellen entscheidet, die dicht gedrängt in dem Becken schwimmen, eröffnet einen Raum für Assoziationen, ohne dass deswegen die Szene hinter ihren metaphorischen Mehrwert zurückträte; Forelle, Fischgeschäft und Holzklotz haben eine unmittelbare Stimmigkeit und behalten sie, auch wenn sie auf etwas anderes anspielen.

Esma, die Frau, die der Forelle wegen strauchelt, ist Bosnierin. „Grbavica“ spielt im Sarajewo der Gegenwart, die Tochter Sara ist zwölf, es gibt keinen Vater. Gefallen sei er, sagt Esma, ein Märtyrer. Aber Sara zweifelt, und der Zuschauer weiß es längst: Esma wurde im Krieg vergewaltigt. Er weiß das, weil er gleich zu Anfang sieht, wie Mutter und Tochter balgen; diese drückt jene zu heftig auf den Boden, was wiederum zu einer Überreaktion der Mutter führt. Wenig später muss Esma aus einem überfüllten Bus aussteigen, weil sie es nicht erträgt, dass ein dicker Kerl mit offenem Oberhemd, viel Brusthaar und Goldkette dicht neben ihr lehnt. Eine Freundin fragt, ob sie zu einem Klassentreffen komme. Sie wisse es noch nicht, sagt Esma, und: „Wer nicht tot ist, lebt doch sowieso nicht mehr hier.“ Noch ein wenig später sind Narben auf ihrem Rücken zu sehen, und als Sara fragt, ob sie ihrem Vater ähnele, antwortet Esma mit Nachdruck: Nein, ganz und gar nicht. Žbanić trägt also lieber dick auf, anstatt sich auf die Kraft subtiler Anspielung zu verlassen. So ist „Grbavica“ zwar ein grundanständiger Film, er ist aber auch vorhersehbar und überdeutlich, er folgt einer zu offensichtlichen dramaturgischen Spur und misstraut damit dem Wissen des Zuschauers. Die Auszeichnung, die ihm die Jury unter Vorsitz Charlotte Ramplings am Samstagabend zuerkannte, umflattert ihn deswegen wie ein zu großes Kleid.

Ihren Auftritt auf der Bühne des Berlinale-Palastes nutzte Jasmila Žbanić, um darauf hinzuweisen, dass Radovan Karadžić und Ratko Mladić auf freiem Fuße seien, obschon sie die Vergewaltigung von 20.000 Frauen, die Ermordung von 100.000 Menschen und die Vertreibung von einer Million Menschen verantworteten. Žbanić’ Appell, dass die beiden Kriegsverbrecher in Haft genommen werden müssen, ist nichts hinzuzufügen, und sicherlich erfüllt ihr Film eine wichtige Funktion, insofern er an etwas erinnert, was tabuisiert wird. „Grbavica“ zeigt, wie prekär die Situation der vergewaltigten Bosnierinnen heute noch ist, wie sie gewissermaßen doppelt zum Opfer gemacht werden, da sie nicht nur das Trauma der Vergewaltigung bewältigen müssen, sondern auch den Mangel an Solidarität. Gut kann man sich vorstellen, dass durch Žbanić’ Film die Betroffenen eben jene Anerkennung erfahren, die den soldatischen Helden längst gezollt wird; dass ihnen ihr Alltag nicht zusätzlich erschwert, sondern durch Empathie erleichtert wird.

Dennoch bleibt die Frage, wie es um die Berlinale steht, wenn sie sich in erster Linie als Plattform politischer Appelle begreift und nicht als Filmfest. Ist es dem Festival zuträglich, wenn es sich als Korrektiv dessen in Szene setzt, was weltpolitisch aus dem Ruder läuft? Das ist ja eine Menge in diesen Tagen. Mit Schrecken muss man sehen, wie sich die Welt in Lager teilt, wie die Logik des „Wir und sie“ sich durchsetzt, und wie schwierig es ist, sich dieser Logik zu entziehen. Ein Filmfestival könnte dies versuchen, indem es auf der Freiheit der Kunst beharrt – auf der Freiheit, Dinge aus unterschiedlichen Blickwinkeln zu betrachten, Gewissheiten in Frage zu stellen, die blinden Flecken der eigenen Wahrnehmung zu erforschen. Gut funktionierte dies beispielsweise in den Filmen aus dem Iran. Während man hierzulande den Eindruck hat, dort lebten nur mehr fanatisierte Holocaust-Leugner und Atombombenbauer, schaffen die auf der Berlinale gezeigten Filme ein differenziertes Bild, und im Gespräch mit dem Publikum betonen und veranschaulichen die eingeladenen Regisseure diesen Facettenreichtum. Wenn im Exil lebende iranische Regisseure dennoch den Vorwurf lancierten, die große Präsenz iranischer Filmen spiele dem Regierung von Mahmud Ahmadinedschad in die Hände, so lässt sich dies nur unter einer Prämisse aufrechterhalten: dass man die Filme nicht kennt. Von Mani Haghighis wunderbarer Parabel „Men at Work“ zu behaupten, sie arbeite dem Regime zu, ist Unsinn; Ähnliches gilt für Rafi Pitts’ Drama „Zemestan“ („Es ist Winter“), das in ruhigen Bildern von der Enge und dem Versuch, sie zu überwinden, erzählt.

Doch bei der Form des politischen Kinos, die im Wettbewerbsprogramm favorisiert wird, scheint Gewissheit das wichtigste Kriterium zu sein. Dies gilt in besonderem Maße für den Film „The Road to Guantánamo“ von Michael Winterbottom und Mat Whitecross, eine halb dokumentarische Arbeit, die den Preis für die beste Regie erhielt. „The Road to Guantánamo“ ist ein Film, dessen Absicht und Aussage so lauter sind, dass man gegen die Machart scheinbar nichts einwenden kann. Hastige, eindringliche Bilder finden die beiden Regisseure für das Skandalon Guantánamo, für die Folter und die Misshandlung. Nichts bleibt ausgespart: weder die Stunden währende Heavy-Metal-Beschallung, die Einzel- und Dunkelhaft, der Sadismus der Verhöre, die Hitze in den Verschlägen, die Hundezwingern gleichen. Eine Tarantel auf dem staubigen Zellenboden hat inmitten dieses Elends schon fast eine Comic-relief-Funktion.

Selbstverständlich haben Winterbottom und Whitecross Recht, wenn sie all dies skandalisieren, so wie es eben erst der Bericht der UNO-Menschenrechtskommission getan hat. Nur ist „The Road to Guantánamo“ kein UN-Sonderbericht, sondern ein hoch emotionalisiertes Stück Kino, das für Skepsis und Reflexion nichts übrig hat. Das ist ein großes Problem. Denn indem dieser Film mit seiner Botschaft den Zuspruch erzwingt, löscht er den Raum dessen aus, was Kunst kann: Reflexion, Perspektivwechsel, Einfühlung, Empathie und dergleichen mehr sind in diesem im Stile einer TV-Reportage gedrehten Film nicht vorgesehen; was bleibt, ist nichts als Empörung. „The Road to Guantánamo“ nimmt sich nicht die Zeit, bei einem Bild, einer Szene, einer Figur zu verweilen. Der Film stellt keine Frage, die ihn von seinem Pfad abbrächte, er erstickt gewissermaßen an seiner Botschaft und lähmt den Betrachter vor lauter Agitierung. In letzter Konsequenz folgt „The Road to Guantánamo“ jener schrecklichen Logik, die das Weltgeschehen bestimmt: Wer nicht auf meiner Seite steht, ist gegen mich.

Nun müsste dies nicht weiter stören, wäre der Wettbewerb der Berlinale eine runde Sache: mit künstlerisch aufregenden Filmen, namhaften Regisseuren und Regisseurinnen, mit einer guten Dosis Autorenkino und einer kleinen Prise US-Mainstream. Dann ließe sich ein Stück Agitprop wie das von Winterbottom und Mat Whitecross leicht verkraften. Doch leider ist dies nicht der Fall. Wenn Cannes im vergangenen Jahr Michael Haneke, Atom Egoyan, Gus Van Sant, Lars von Trier, Jim Jarmusch, David Cronenberg und die Brüder Dardenne defilieren ließ, macht ein Wettbewerbsprogramm mit Oskar Roehler, Pernille Fischer Christensen und Michele Placido keine allzu gute Figur – selbst wenn Regiemeister wie Claude Chabrol, Robert Altman und Sidney Lumet runde Alterswerke beisteuern. Da ist zu viel Mittelmaß, zu viele Filme wie „En soap“ oder „Snow Cake“ oder „Candy“, die man, kaum hat man sie gesehen, auch schon vergessen hat.

Und der deutsche Film? Der zählte zu den erfreulichen Seiten des Festivals: „Requiem“ von Hans-Christian Schmid und „Sehnsucht“ von Valeska Grisebach bildeten Höhepunkte im Wettbewerb, und „Der freie Wille“ von Michael Glasner war ein mutiger Film, auch wenn die Annäherung an die Perspektive eines Vergewaltigers viele Probleme barg. Einzig Oskar Roehlers „Elementarteilchen“, die Adaption des Romans von Houellebecq, enttäuschte. Warum Moritz Bleibtreu für seinen Part des sexbesessenen Bruno einen Darstellerpreis erhielt, muss ein Geheimnis der Jury bleiben.

Es reicht freilich nicht, sich auf die einheimische Filmproduktion zu kaprizieren, solange das Wettbewerbsprogramm so wenig Begeisterung entfacht. Im letzten Jahr geb es mit Alexander Sokurovs „Solnze“ („Die Sonne“), Tsai Ming-Liangs „The Wayward Cloud“ und Christian Petzolds „Gespenster“ drei Filme, nach denen man sich erstaunt, begeistert, überrascht die Augen rieb, kühne, künstlerische Visionen. Davon hat man in diesem Jahr viel zu wenig gesehen.