piwik no script img

Archiv-Artikel

Eindeutiger Staatsstreich mit ultimativer Ansage

PUTSCHKUNDE Von Barack Obama bis zu den Generälen vermeiden alle das Wort Putsch

Ein Jahr Mursi

■ Nach dem Sturz von Husni Mubarak wurde Mohammed Mursi am 24. Juni 2012 Präsident Ägyptens. 12. August: Mursi setzt Verfassungszusätze außer Kraft, die seine Macht zugunsten des Militärs einschränkten. 22. November: Mursi spricht dem Verfassungsgericht die Kompetenz ab, über die Rechtmäßigkeit des von Islamisten dominierten Verfassungskomitees zu entscheiden. 29. November: Im Eilverfahren peitscht das Verfassungskomitee seinen Entwurf einer Verfassung durch. Massenproteste halten an. 25. Januar 2013: 500.000 Ägypter protestieren gegen ihn. 2. Juni: Das oberste Verfassungsgericht spricht dem von Muslimbrüdern und Salafisten dominierten Oberhaus des Parlaments die Legitimität ab. 28. Juni: Tausende Demonstranten fordern Mursis Rücktritt. Die Protestbewegung wirft Mursi vor, die wirtschaftlichen und sozialen Probleme nicht zu lösen. 30. Juni: Massenproteste in allen Städten des Landes. 1. Juli: Armeechef und Verteidigungsminister, General Abdel Fattah al-Sisi fordert, dass Mursis Muslimbruderschaft und die Opposition den Konflikt innerhalb von 48 Stunden lösen. (dpa)

BERLIN taz | Das Wort Putsch ist negativ besetzt und wird deshalb bei von Militärs initiierten Umstürzen, deren Resultat manche Gruppen favorisieren, von diesen gern vermieden. So haben sowohl US-Präsident Barack Obama als auch die putschende Armeeführung selbst den Begriff in ihren Stellungnahmen nicht verwendet. Wer jedoch den Begriff Putsch (auch Coup d’Etat oder Staatsstreich) als Machtergreifung einer bewaffneten Gruppe definiert, die unter Bruch oder Verbiegung der Verfassung eine legitime zivile Regierung absetzt, stellt fest: Genau dies ist in Kairo der Fall. Denn Verfassungen sehen Regierungswechsel nur durch Wahlen vor oder den Verlust parlamentarischer Mehrheiten. Das Staatsoberhaupt kann zurücktreten oder ein Gerichtsentscheid den Regierungswechsel erzwingen. Verfassungsgemäß ist ein Wechsel nicht, wenn die Armeeführung militärische Gewalt androht oder ausübt.

Militärputsche sind nicht immer gewalttätig, aber enthalten immer eine entsprechende Drohung. Friedlich bleiben sie meist, wenn die zu stürzende Regierung samt ihrer Anhänger schnell überzeugt werden kann, dass Widerstand zwecklos ist. Dabei hilft gewöhnlich der Überraschungseffekt. In Ägypten gab es vorab sogar eine ultimative Drohung, die dann einfach in die Tat umgesetzt wurde. Ob die entmachteten Muslimbrüder allerdings auch künftig friedlich bleiben oder einen gewaltsamen Umsturz anstreben, ist offen.

Putsche beinhalten meist die Festsetzung oder Flucht der alten Machthaber. Auch der ägyptische Präsident Mursi ist festgesetzt. Komplizierter ist es mit der Verfassung. In Ländern, in denen das Militär eine starke innenpolitische Rolle spielt (meist aufgrund früherer Putsche wie etwa in Pakistan oder der Türkei), hat sich dieses oft in der Verfassung das Recht geben lassen, die Regierung abzusetzen, wenn diese „gegen die nationale Sicherheit“ oder Ähnliches verstößt. Das Militär erkennt damit also eine zivile Hoheit nicht wirklich an, sondern beansprucht selbst die Interpretationshoheit, die in einem Rechtsstaat Gerichten vorbehalten wäre.

Ägyptens jüngste Verfassung enthält keinen solchen Passus, wurde aber nach dem Putsch sofort ausgesetzt. Das Militär sieht die Verfassung als problematisch an. Am Referendum über das umstrittene Grundgesetz hatte nur eine Minderheit teilgenommen. Je umstrittener die durch den Putsch ausgehebelte verfassungsmäßige Ordnung war oder je mehr die gestürzte Regierung diese selbst missbrauchte, desto geringer wiegt der Vorwurf des Verfassungsbruchs durch den Putsch. Doch schwächt jeder Militärputsch die zivilen Kräfte weiter.

Putsche sind interelitäre Machtkämpfe, doch genießen Putschisten oft öffentliche Unterstützung. Die kann ausschlaggebend sein. So wurde 1986 der philippinische Diktator Ferdinand Marcos nach gefälschten Wahlen gestürzt, indem friedliche Massendemos die militärisch unterlegenen Putschisten schützten. Marcos hätte seine Macht nur zum Preis eines Blutbads gegen den demonstrierten Volkswillen ausspielen können. Nach wenigen Tagen floh er ins Exil.

Auch in Kairo stellten sich die putschenden Militärs auf die Seite der gegen Mursi protestierenden Bevölkerung, wenngleich es den Militärs wohl um die Sicherung eigener Pfründen ging. Die Generäle gaben die Macht an eine zivile Regierung weiter. Doch ist diese von der Gnade der Militärs abhängig. Mit dem Putsch gaben sie sich selbst ein Vetorecht. Auch wenn Mursis Sturz der Wunsch vieler Ägypter war, dürfte der Einfluss des Militärs noch für Probleme sorgen. Bald könnten auch die weggeputscht werden, die den Staatsstreich gutheißen. SVEN HANSEN