: „Unsere Sozialisierung bestimmt, wie und was wir forschen“
WISSENSCHAFT Sozial konstruierte Geschlechterunterschiede werden durch Testergebnisse biologisiert, kritisiert die Neurowissenschaftlerin Emily Ngubia Kuria
■ 28, schreibt ihre Doktorarbeit an der Berliner Charité und am Zentrum für transdisziplinäre Geschlechterstudien der Humboldt-Universität. Die Kenianerin hat einen Master in Neurowissenschaften und einen Bachelor in Physik. Sie fordert die Integration einer feministischen Perspektive in die Naturwissenschaften.
taz: Frau Kuria, welche Rolle spielt Wissenschaft in der Reproduktion von Geschlechterdifferenzen?
Ngubia Kuria: In der Neurowissenschaft wird die Leistungsfähigkeit von Menschen in bestimmten Umständen gemessen. In diesen Laborsituationen werden somit Fakten geschaffen – und sozial konstruierte, also erlernte oder anerzogene Unterschiede zwischen Geschlechtern als biologisch untermauert. Wissenschaft schafft Wissen – und reproduziert nicht nur Geschlechterunterschiede, sondern beweist sie vermeintlich auch noch.
Wie schlägt sich Geschlechtersozialisierung in diesen Experimenten nieder?
Der mentale Rotationstest ist eins der bekanntesten neurowissenschaftlichen Experimente, bei dem Geschlechterunterschiede auftreten. Die Versuche zeigen, dass Männer die 3-D-Objekte in der Regel schneller und akkurater im Geiste drehen. Viele Neurowissenschaftler sehen dies als Beweis der biologischen Unterschiede zwischen Männern und Frauen und ziehen daraus Rückschlüsse auf die Fähigkeiten von Frauen in Bezug auf Mathematik und logisches Denken. Ich gehe aber davon aus, dass diese Unterschiede Ausdruck der unterschiedlichen Sozialisierung von Männern und Frauen sind. Männer sind nicht „natürlich“ besser bei diesen Aufgaben, sondern haben aufgrund von Zuschreibungen diese Fähigkeiten besser trainiert.
Welche Auswirkungen hat dies wiederum auf gesellschaftliche Zusammenhänge?
Eine Spirale wird fortgesetzt! Wissenschaftliche Autorität hält sozial konstruierte Geschlechterkonzepte aufrecht und verfestigt Rollenzuschreibungen in der Gesellschaft. Viele Frauen internalisieren die Zuschreibung, dass sie zum Beispiel in Mathe unterdurchschnittlich abschneiden. Dies kann unter Umständen ihre Studien- und Berufswahl beeinflussen. Wenn hingegen Geschlechterunterschiede in solchen wissenschaftlichen Experimenten als sozial konstruiert erkannt werden, wird auch deutlich, dass diese Fähigkeiten trainiert und ausgeglichen werden können.
Was fordern Sie also von der Wissenschaft?
NaturwissenschaftlerInnen sollten anerkennen, dass sozial konstruierte Geschlechterdifferenzen die Aufstellung von Laborversuchen, also ihre Methodik, die Leistung der Testpersonen und die Interpretation der Ergebnisse beeinflussen. Wir brauchen eine umfassende selbstreflexive Perspektive: Was ist unsere Position? Unsere Sozialisierung bestimmt unsere Forschung – und auch das, was wir überhaupt erforschen.
INTERVIEW: LENA KAMPF