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Archiv-Artikel

Ver.di – ein Wintermärchen

DAS SCHLAGLOCH von MATTHIAS GREFFRATH

Als er aus seinem Traum erwachte, setzte er sich zum Ministerialbeamten und dem McKinsey-Chef

Der Ver.di-Vorsitzende streute Zucker in seinen Grünen Tee. Seit Wochen hatte er nur drei Stunden geschlafen. Der Vogelsberg lag, untypisch für Ende März, im Schnee, und auf der Talsperre, die der ICE 972 gerade passierte, saß ein Riesenschwarm von Wildenten. „Der Schnee und die Vögel, das war’s“, murmelte der Vorsitzende. Sein Referent nickte: „Und die Ratten.“ Am Tisch schräg gegenüber ging der Kanzlerinnenberater von McKinsey mit seiner Assistentin ein Redemanuskript durch. „Individuelle Autonomie“, klang es herüber, „ist die Richtgröße.“

Es war die neunte Woche des Streiks, und es sah nicht gut aus. Der Schnee, die Vögel und die Ratten, damit hatten sie nicht gerechnet. In der vierten Woche war der Kampf um die achtzehn Minuten am Tag zur Prestige-Frage eskaliert, ein Abbruch unmöglich geworden: die unterbezahlten Bademeister, die frustrierten Bibliothekarinnen, die ausgebrannten Lehrer wollten es wissen. Auf einer Versammlung in Göppingen hatten die Trillerpfeifen geschrillt, als dem Vorsitzenden, in einer schwachen Minute, das Wort „Kompromiss“ entfahren war. „Wulf-Matthies“ hatte es aus den Megafonen gekrächzt. Die Basis wollte keinen Schritt weichen. Und er wollte wiedergewählt werden.

Also hatten sie die Flucht nach vorn ergriffen und waren vom Schwerpunkt- zum Flächenstreik übergegangen. Und dann das Desaster: In den Mittelgebirgen setzte Anfang März schwerer Schnee ein, drei Tage später fanden Spaziergänger in Dresden und Rüdesheim ein paar tote Grippe-Enten und verendende Schwäne, in Hamburg-Eppendorf spielten Kinder mit Ratten im Müll. Noch bevor sie mit geordnetem Rückzug reagieren konnten, hatte der Gegner zugeschlagen. Der neoliberale „Bürgerkonvent“ schaltete Anzeigen in der FAZ und Spots auf Sat.1: „Wir machen unsern Staat alleine“, war die Parole gewesen, und: „Wir sind Deutschland – jetzt wird’s ernst“.

Bild rief gar zu einer Art Bürger-Generalmobilmachung auf: Rentner fuhren mit Kleinstlastwagen den Müll ab; Hausgemeinschaften schaufelten Schnee und bemächtigten sich in einigen Städten des kommunalen Fuhrparks, um die Straßen zu räumen; aggressive Mittelschicht-Eltern besetzten mit ihren Kindern Tagesstätten und Schulen; in den ländlichen Gebieten blockierten Ernährungsparanoiker Hühnertransporte; in den Städten knallten Hobbyjäger die Tauben ab. Anarchische Lust am autonomen Handeln breitete sich aus wie ein Virus, richtete sich gegen die verspäteten Notdienste der Streikenden: „Haut ab, ihr faulen Säcke“ war noch das Höflichste, in Ulm und Osnabrück wurden sie nach Hause geprügelt.

So ging es seit vierzehn Tagen. Das Gesetz des Handelns war der Gewerkschaft völlig entglitten, die Branchenvorstände hatten sich in internen Kämpfen aufgerieben, der Vorsitzende war dreimal zurückgetreten, aber niemand wollte den Job. Und die Regierung beschwor ihn, die Sache wieder unter Kontrolle zu kriegen.

Der Vorsitzende lehnte den Kopf an die Scheibe des ICE. „Ach sieh mal, König Ohneland“, tuschelte jemand hinter ihm. Draußen schneite es auf hessische Wälder, und vom Nebentisch kamen Halbsätze des McKinsey-Chefs: „neue Instrumente kollektiven Handelns finden … Gemeinschaft neu begründen … allgemeiner Sozialdienst … nicht leisten, die Arbeitskraft von Millionen brachliegen zu lassen … Vitalitätslücke“. Aus dem Lautsprecher hörte er noch die Durchsage: „Defekt im Warmwassersystem … keine heißen Getränke … bitten um Verständnis“. Dann war er eingeschlafen.

Und träumte: von Frau Franke, der Märchenfranke, die ihnen auf dem Spielplatz seiner Kindheit nachmittags Märchen vorgelesen und vormittags Kreisspiele mit ihnen gemacht hatte, acht Stunden am Tag. Sie saß auf einer Schaukel und Herr Thomsen stieß sie an – der einarmige Kriegsveteran, der den Halbwüchsigen umsonst Tennisunterricht gab. Auf der Bank des Spielplatzes saß Peter Scholl-Latour neben Parlamentspräsident Lammert, die beiden diskutierten über Leitkultur, ein paar Meter weiter gaben Peter Weiss und Ursula von der Leyen einer Gruppe von Halbwüchsigen Tangounterricht, und auf der Brache hinter dem Zaun saßen sieben Raben, krächzten „Humankapital“und drehten wirre Kapriolen zu türkischem Folkrock.

Als der Vorsitzende aufwachte, kurz hinter Göttingen, fühlte er sich merkwürdig belebt. Irgendetwas war anders. Ein Gedanke aus dem tiefen Traum wollte an die Oberfläche, stieg auf, verschwand, und war nicht mehr zu greifen. Ihm gegenüber brütete sein Referent über Zahlenkolonnen, nicht anzusprechen. Neben dem McKinsey-Chef saß jetzt ein Abteilungsleiter aus dem Innenministerium, die beiden redeten heftig miteinander: „Autoritätsverlust“ war zu hören, „Chaos“ und „Kontrolle verlieren“. „Staatskrise“ und „schnell einbinden“, sagte der Ministeriale, und der andere: „über den Staat abgewickelte Gemeinschaftsaufgaben erzeugen eben nicht soziale Gemeinschaft“.

Der Referent blickte von seiner Rechnung auf und grinste: „Weiß du eigentlich, wie dieser ICE heißt?“ Draußen lag der Harz, tief weiß, und durch den Gang wehten ein paar Takte der Musik aus seinem Traum. Der Vorsitzende zuckte mit den Achseln. „Götterdämmerung“, flüsterte der Referent und zog einen Mundwinkel hoch. Dann schob er ihm den Block mit den Zahlen über den Tisch.

Es geschah dann kurz vor Braunschweig. „Wenn Sie gestatten“, sagte der Vorsitzende, stand auf und setzte sich zu dem Ministerialen und dem McKinsey-Chef, „ich hatte grade einen Traum, der sich rechnet.“ Bis Berlin waren es noch anderthalb Stunden.

Einen Tag, eine lange Vorstandsnacht und einen dramatischen Fernsehauftritt des Vorsitzenden später lag das neue Angebot von Ver.di auf dem Tisch: Verkürzung der Arbeitszeit im öffentlichen Dienst von 38,5 auf 35 Stunden, ohne Lohnausgleich – im Gegenzug ein grundsätzlicher Verzicht der öffentlichen Arbeitgeber auf Privatisierungen. Und: die Einstellung von 250.000, vor allem jüngeren, qualifizierten Arbeitslosen.

Es war die neunte Woche des Streiks, und es sah nicht gut aus. Der Ver.di-Vorsitzende saß im Zug und schlief ein

Am Montag darauf beschlossen diverse Verfassungsorgane die „Gemeinschaftsinitiative zur Regionalen Intensivierung bürgerschaftlicher Mitwirkung in multikulturellen Milieus“, kurz GRIMM genannt. Die Neueinzustellenden sollten in Schnellkursen ausgebildet werden und schwerpunktmäßig in der vorschulischen Gruppenarbeit eingesetzt werden, vor allem im Sprachunterricht für Migrantenkinder, in Kitas und auf allen Großstadtspielplätzen der Republik; Bewerber mit migrantischem Hintergrund bevorzugt.

Und ein weiteres, neues Berufsbild wurde kreiert: Bürger-Animateure, flexibel operierende Organisatoren, die dem – wie sich in den dramatischen Wochen zuvor gezeigt hatte – ungeheuer großen, aber naturgemäß flüchtigen und chaotischen Bedürfnis nach bürgerschaftlichen Aktivitäten neue Betätigungsfelder in Stadtvierteln und Kommunen eröffnen sollten, als informelle Eingriffstruppe kreativer Sozialverwaltungen.

„Mit GRIMM“, so schloss die Kanzlerin ihre Erklärung vor dem Parlament, „könnte uns der Einstieg in den Ausstieg aus HARTZ IV gelingen.“

Fotohinweis: Mathias Greffrath lebt als Publizist in Berlin