: Die Wirklichkeit spricht viele Sprachen
PERFORMANCE IN ISRAEL Das ehrgeizige Jerusalemer In-House Festival eröffnet in Wohn- und Schlafzimmern Räume für Utopie
Hanan Ben Simons Arbeits- und Schlafzimmer in der Ben-Jehuda-Straße 31 ist klein. Die Mieten sind hoch in Jerusalem. Acht Leute finden Platz auf der Tagesdecke des Betts mit Leopardenmuster, auf drei Stühlen und auf dem Boden. Der Künstler sitzt im Seidenpyjama hinter seinem Keyboard in einer Ecke. Die Intimität der Situation wird noch verstärkt durch die Songs, die Ben Simon geschrieben hat. Sie handeln von der ersten Liebe und vom schwierigen Verhältnis zur Familie nach seinem Coming-Out: „When you get older, it gets rough“, singt er mit hoher Stimme und verwickelt seine Zuhörer in ein Gespräch übers Älterwerden. Hanan Ben Simon ist 25, und er ist camp: Perfekt beherrscht er die Kunst des selbstironischen Sprechens über wahre Gefühle.
Hanan Ben Simons Schlafzimmerkonzert war Teil des Festival BaBeit, auf Englisch In-House Festival, das in der vergangenen Woche stattfand. In fünf Tagen wurden zwölf eigens entwickelte Produktionen gezeigt, in Wohnungen, Parks, einer Blindenschule, einem Kloster, einem Luxusappartement und im Naturkundemuseum.
Das Festival gehört zur Jerusalem Season of Culture, die den ganzen Sommer umspannt und in diesem Jahr zum dritten Mal stattfindet. Sie ist Teil der Kulturoffensive von Bürgermeister Nir Barkat. Durch säkulare Kulturprojekte soll der Wegzug junger Gebildeter vermindert und der Tourismus vorangebracht werden. Deswegen würden zwar immer neue Parks angelegt, sozialpolitisch aber passiere weniger als unter Barkats orthodoxem Vorgänger, bemängeln Kritiker.
Geteilter Raum
Den geteilten Raum der Stadt, in der zwei scharf voneinander abgegrenzte Gesellschaften die meiste Zeit bloß nebeneinander her leben, fassen die Macher der Jerusalem Season of Culture mit ihrem Programm in den Blick. Für sie steht der integrative Charakter der Kultursaison im Vordergrund. Das Programm ist online auf Arabisch, Englisch und Hebräisch abrufbar. Es soll nicht nur im westlichen, jüdischen, sondern auch im östlichen, arabischen Teil der Stadt wahrgenommen werden, wünscht sich der künstlerische Direktor des Festivals, Itay Mautner.
Vielsprachig ist auch das Konzert von Noam Inbar und vier befreundeten Musikern im neogotischen Kirchenraum des Klosters der Schwestern von Zion. Während die Zuhörerinnen auf Matratzen liegen, lässt die Band Schlaflieder sanft ineinander übergehen. Vorgetragen werden sie auf Hebräisch, Arabisch und den, wie Inbar meint, „offiziellen jüdischen Sprachen“ Russisch, Jiddisch und englischem Gibberish. Noam Inbar hat nichts dagegen, wenn jemand während seines Konzerts einschläft, weil im Schlaf die Botschaft des Zusammenlebens über religiöse und ethnische Grenzen besser ankomme. Tatsächlich ist leises Schnarchen zu hören, wenn die Musik gerade einmal wieder leiser geworden ist. Das letzte Lied des Konzerts stammt von der Ostjerusalemer Band Sabreen. Es ist die Vertonung eines Gedichts von Machmud Darwisch über einen Gefangenen, der mit seinem Wärter spricht: Eines Tages werde die dunkle Regierung von einer besseren ersetzt.
Die Jerusalemer Season of Culture hat weder Angst davor, kontroverse Stimmen zu Gehör zu bringen, noch lässt sie sich den Raum der Utopie nehmen. Auf ihrer Website ist zu lesen, an ihrem Ende stünden der Weltfrieden, das friedliche Miteinander und Tanzen auf den Straßen. Das klingt ironisch, ist aber ernst gemeint. „Nur wer naiv ist“, sagt Festivalchef Itay Mautner, „kann Möglichkeiten sehen.“
Was die Vorstellungskraft zu leisten imstande ist, demonstriert Naama Schendars Theaterprojekt in einer Blindenschule im ultraorthodoxen Viertel Kirjat Mosche. Vier junge Blinde führen vier Gruppen durch die Schule. In der Küche sitzt Amend und berichtet erst auf Arabisch, dann auf Hebräisch davon, wie es eines Tages für immer dunkel wurde, gerade als er ein Bilderbuch ansah. Während er erzählt, schält Amend zügig Kartoffeln und Karotten. Dass er kochen könne, verdanke er seiner Mutter, sagt Amend. Er spielt auf seinem Oud, der arabischen Laute, ein Lied für sie.
Die Geschichte ihrer Familien, die als Juden in Marokko lebten, lässt das Künstlerpaar Neta und Amit in Gestalt jüdisch-maghrebinischer Musik wiederauferstehen. In ihrem mit Zuhörern vollgepackten Wohnzimmer spielen sie Lieder, die einst in Marokko weit über die jüdische Gemeinde hinausstrahlten. Es sind Lieder voller Schmerz und Sehnsucht, aber auch über das Glück und die Liebe. Neta Elkayam singt, als sei sie mit dieser Musik und mit dem Arabischen aufgewachsen.
Als Neta und Amit einen Clip mit einem bekannten Stück von Salim Halali, „Taalli“, auf YouTube stellten, wurde er auch von vielen arabischen Hörerinnen begeistert aufgenommen. Musik ist anarchisch. Sie erzeugt in Rhythmus und Melodie eine Form der Gemeinschaft, die sich nicht um kollektive Erzählungen von Differenz und Volkstum schert. ULRICH GUTMAIR