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Archiv-Artikel

Das Chaos wieder finden

Die Berliner Volksbühne nimmt das Theater sportlich: Frank Castorf beschwört die anarchische Potenz von „Im Dickicht der Städte“. Brecht behandelt er als Klassiker – und sich selbst auch

VON EVA BEHRENDT

Das Bett ist rappelvoll. „Das ist unser Haus / schmeißt doch erst mal Schmidt und Dings und Bums aus Kreuzberg raus“, grölt Familie Garga aus Chicago. Die Buddha-Erscheinungen Volker Spengler und Hendrik Arnst, die knallbunten Volksbühnen-Beauties Jeannette Spassova, Irinia Kastrinidis und Rosalind Baffoe sehen aus, als wollten sie ein Pamphlet gegen „Unterschichten“ illustrieren, und haben es sich mit ihren Tattoos und Fastfoodbäuchen zwischen mehreren Säcken Altkleidern so richtig gemütlich gemacht. Nur Milan Peschel als Sohnemann George Garga will nicht mit aufs Lotterbett. Er rastet aus: „Das ist doch Anarchoscheiß von vorgestern! Ihr könnt ja noch nicht mal den Text! Sozialschmarotzer! Hartz-IV-Empfänger!“

Diese Bettszene gehört zu den seltenen Momenten, in denen Frank Castorfs Inszenierung des frühen Brecht-Stückes „Im Dickicht der Städte“ von der Vorlage aus den Zwanzigerjahren abhebt und sprachliche Brücken zur Gegenwart schlägt. Sie gehört aber auch zu den wenigen Situationen, die die bewährten Theatermittel des Hauses am Rosa-Luxemburg-Platz ironisch reflektieren. Denn wie schreibt der Regisseur und Hausherr, der seinen letzten Brecht vor zehn Jahren in Hamburg inszenierte, in seinem Aufsatz „Klassiker“ im „Benutzerhandbuch“ zur Inszenierung mit fast schon preußischer Redlichkeit? „Ich habe heute bei Klassikern die Verpflichtung, diese anarchische Potenz zu beschwören.“ Gerade in der Bundesrepublik nach 1989, wo man „viel ungenauer, narzisstischer, wirkungsloser“ schreibe.

Von der Entdeckung dieser anarchischen Potenz profitierte Castorf in den vergangenen Jahren vor allem in Dostojewskis Romanen und in den Stücken von Tennessee Williams. Mit beiden Autoren erfand sich auch Castorf neu und entwickelte mit dem Bühnenbildner Bert Neumann und dem Videokünstler Jan Speckenbach ein halbdokumentarisches Theater, dass sich im Echtzeitfilm spiegelte. Wie aber sieht es mit Brecht aus? Mit dem jungen zumal, der wie der junge Castorf mit Nietzsche mehr am Hut hatte als mit Marx, der sich für Amerika begeisterte, fürs Boxen, den Jazz und die Technik? Dessen frühe Stücke nach Lyrik statt nach Lehrstück klingen und das Theater vor allem sportlich nahmen? Quillt da die Anarchopotenz nicht schon aus jedem Jungmännersatz?

Schon Bert-Neumann-Ästhetik und Brechtbühnen-Referenzen harmonieren wie alte Kumpels, die sich zur Feier des Tages unter junge Leute begeben. Hinter einer Brecht-Gardine aus Silberlametta stehen eher lieblos ein paar Möbel herum, die Rückwand besteht aus Leuchtstoffröhren, provisorisch verhüllt mit roter Plastikfolie. Wer die Tür darin öffnet, dem schlägt, jedenfalls anfangs, ohrenbetäubender Straßenlärm entgegen, und ein grüner Neondrache signalisiert: Draußen warten die Chinesen. Der Schanghai-Kapitalismus. Das nackte Grauen.

Auf dieser schäbigen Boulevard-Terrasse eröffnen Milan Peschel und Herbert Fritsch den elementaren Zweikampf. Für ihn soll es laut Brecht keine Gründe geben, er ist aber doch als Geschichte einer aggressiven Liebe und programmatischen Selbstaufgabe angelegt: Der reiche malaiische Holzhändler Shlink, der bei Herbert Fritsch anfangs mit Perücke gelangweilt über den Beton steppt, fordert den armen Leihbibliothekar Garga zum Kampf. Er bewirkt Gargas Kündigung, macht seine Braut Jane und Schwester Marie zu Prostituierten und zwingt ihn, indem er ihm Geld und Geschäfte übergibt, in seine Unternehmerrolle. Garga nimmt an und ruiniert Shlinks Firma nach Leibeskräften. Peschel lässt seine verschwitzt keifende Couchkartoffel langsam vereisen, bis er zum kalten Soldaten im Dienste von Shlinks selbstmörderischen Ideen geworden ist.

Doch die „Kampfeslust im Spätkapitalismus“ gerät bei Brecht wie bei Castorf bald in den Hintergrund: Sie verheddert sich in Familienknatsch, der den Zerfall aller Bindungen anzeigt. Sie stolpert über pathetisches Puffgepolter, das mit einigem Schauwert den Materialismus anprangert. Irina Kastrinidis quietschende Jane kullert in pinkfarbenen Gummihöschen abwechselnd über die Spielfläche, und Marc Hosemanns Zuhälter, Schwester Marie (Jeannette Spassova) lamentiert über ihr Hurenlos in feiner Korsage und mit zusammengebissenen Zähnen. Auch Mutter Mae landet im horizontalen Gewerbe: Die farbige Schauspielerin Rosalind Baffoe, die mit einem knapp zwei Dutzend Altkleiderschichten umfassenden Strip einen fulminanten Volksbühneneinstand gibt, wird dabei regelmäßig zur politisch unkorrekten Kalauervorlage: „Mutter, warum siehst du so bleich aus“, „Mutter, koch uns doch mal einen schwarzen Kaffee“. Mehr Anarchie ist nie.

„Man braucht viel Humor in diesem September“, stellt Hendrik Arnsts lakonischer Manky fest. Genau hier liegt das Problem: Der Inszenierung fehlt er nämlich über weite Strecken. Denn Castorf behandelt diesen Brecht wirklich wie einen Klassiker. Mit sehr viel Respekt. Der schwere Expressionismussound der Druckversion von 1927 wird nicht nur abgearbeitet, sondern auch noch mit Elementen aus der früheren Fassung von 1923 verlängert. Gleichzeitig inszeniert Castorf mit bewährten Castorf-Mitteln und einem exzellent exzentrischen Ensemble auch einen Klassiker seiner selbst, der mit seinen zahllosen Kostümwechseln, verquatschen Monologen und stimmungsvollen Musikeinlagen in alle möglichen Sinnsackgassen ausfransen darf. Nein, Castorfs Chaos ist nicht aufgebraucht. Aber neu ist es auch nicht.

„In Deutschland gibt es derzeit eine neokonservative Tendenz. Man will das wieder finden, was man immer schon kannte.“ Letzteres ist nicht nur, wie Castorf meint, „der Fluch der Klassikerdiskussion“, sondern auch die Schwäche dieses Abends (und vielleicht auch der Zuschauerin). Gegen Ende aber schütteln drei unvorhergesehene Erdstöße unsere kleine Plattform, und das Pflaster bricht mit Getöse auf. Es ist ganz gut, dass wir nicht erfahren, ob darunter der Strand liegt – oder nur Shlink, der sich am Ufer des Lake Michigan vergiftet hat.