DER ZEITPUNKT : 7.6.2013, 9 Uhr
■ In China kritisiert ein Schüler die politischen Verhältnisse und ruiniert sich damit seine berufliche Zukunft. Das Netz feiert ihn als Star.
Im Leben chinesischer Jugendlicher gibt es zwei wichtige Daten: Es sind die beiden Junitage, an denen das Gaokao geschrieben wird. Während dieser Prüfung dürfen in machen Städten nicht mal Bauarbeiten stattfinden. Das Ergebnis entscheidet über Studienplatz und Berufschancen. Selbstständiges Denken ist bei den Prüfungen nicht gefragt. Die Schüler sollen lediglich vorgegebene Inhalte reproduzieren.
Ein Schüler in der Provinz Sichuan hatte die Aufgabe, im Fach Chinesisch ein Essay zu „Chinesischer Gerechtigkeit“ schreiben. „Als ich das Thema las, wollte ich lachen“, beginnt er seinen Aufsatz, „Ich konnte das grimmige Gesicht des Korrektors vor mir sehen.“ Dann zählt er die Fälle von Korruption und Dekadenz bei Politikern und Stars auf und empört sich über die Wohnungspreise, die sich Normalverdiener kaum noch leisten können, die Umweltverschmutzung, die Schere zwischen Parteikader und Bürger, die immer größer wird.
„Ich wollte immer in einer gerechten Welt leben, in der das Gesetz regiert. Aber siehst du hier Gerechtigkeit? Jetzt gib’ mir schon null Punkte und geh’ Mahjong spielen“, beendet der unbekannte Schüler seinen Aufsatz. Die null Punkte hat er bekommen, das Gaokao nicht. Da in China jedes Jahr die besten und schlechtesten Klausuren veröffentlicht werden, kursiert das Essay aus Sichuan im chinesischen Netz, wo er für seinen Mut gefeiert wird. Einer der Kommentatoren fordert: „Dieser Junge gehört nach Harvard!“ KATHARIN TAI