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Archiv-Artikel

Die Quelle ist versiegt

Über die Grünen:„Der Ideenvorrat ist verbraucht, bei denen und bei uns“„Ich habe der jetzigen Koalition gegenüber keine größere Furcht oder Hoffnung“

AUS BIELEFELD HEIKE HAARHOFF

Der Traum vom besseren Leben wird zwangsversteigert, am 10. Mai 2006 um 9.30 Uhr im Amtsgericht Bielefeld, Saal 4089. Finanzielle Schwierigkeiten, familiäre Probleme. Am Ende war das Einfamilienhaus im Waldquellenweg 71 nicht mehr zu halten.

Hans Zybura, der Nachbar aus dem Waldquellenweg 52, sagt, dass er es ja weiß. Dass so etwas passiert. Überall. Dass man davor nicht geschützt ist. Nirgendwo. Auch da nicht, wo die Gemeinschaft und das Zusammenleben gegen die Übel der Welt gefeit zu sein schienen. Der Waldquellenweg ist da keine Ausnahme.

Er sitzt an einem naturbelassenen Massivholztisch in seiner Wohnküche, vor sich eine Kanne Tee und eine Dose selbstgebackener Lebkuchen. Draußen steht der Hühnerstall, an der Grundstücksgrenze liegt ein Erdhügel, „der antifaschistische Schutzwall“, sagt Hans Zybura. Drinnen gibt es ein Kompostklo und geisteswissenschaftliche Bücher, unterm Dach ist sein Büro für Software. Arbeitshilfen zur Unterrichtsvorbereitung entwickelt der ehemalige Lehrer Zybura, 57 Jahre alt, hier. Und ein paar Meter entfernt liegt das Haus Nummer 71 – wer dort nach der Zwangsversteigerung einziehen wird, entscheidet nicht die Gesinnung, sondern der Preis. Hans Zybura verschränkt die Arme vor der Brust. „Also, Sie sehen, auch wir sind in der Normalität angekommen.“ Er lacht wie über sich selbst. „Auch wir.“

Wir. 286 Menschen aus der Ökosiedlung Waldquelle, verteilt auf 100 Eigenheime, Reihenhäuser und genossenschaftliche Mietwohnungen, schadstofffrei und niedrigenergetisch, gelegen am Stadtrand von Bielefeld mit Blick auf den Teutoburger Wald. 286 Menschen, organisiert in Kleinfamilien, die Kinder von ziemlich klein bis demnächst volljährig, die Erwachsenen zwischen 40 und 60. Viele Sozialarbeiter, viele Heilpraktiker, viele Ärzte, viele Lehrer. Die Yildirims, die Özkans und die Oktays fehlen an den Klingelschildern.

Wenn man fragt, woran es liegt, dass es keine Ausländer in der Siedlung gibt, dann wird man belehrt, dass niemand ausgegrenzt werde und es Einwohner mit Migrationshintergrund gebe: zwei Österreicher. Ansonsten aber ist man deutsch im Waldquellenweg und wählt bevorzugt Grün, immer schon und immer noch, 19,1 Prozent waren es bei der vergangenen Bundestagswahl.

„Bei manchen hier gibt es schon das Gefühl, dass es sehr eng ist“, sagt Hans Zybura, „aber welche Alternative haben wir?“ – Zum Wohnen oder zum Wählen? – Er wischt die Frage wie eine lästige Fliege mit einer Handbewegung beiseite, so, als tue diese Unterscheidung nichts zur Sache: „Der Ideenvorrat ist verbraucht, bei denen und bei uns.“

Bei denen und bei uns. Die Geschichte der Grünen und die Geschichte des Waldquellenwegs sind miteinander verknüpft. Als die Grünen Ende der 80er-, Anfang der 90er-Jahre sich in den Parlamenten etabliert hatten, fanden auch viele ihrer Sympathisanten und Wähler, dass es an der Zeit sei, sesshaft zu werden und auf der eigenen Scholle für das bessere Leben zu kämpfen. In Bielefeld-Quelle standen damals die Rieselfelder einer ehemaligen Gerberei zum Verkauf, 5,3 Hektar für vier Millionen Mark. Am Ende sind daraus dann Eigenheime im Grünen geworden.

Aber soll man sich deswegen das Leben heute schwer machen? Etwa wegziehen aus dieser lauschigen Siedlung, nur weil sie in den bald 20 Jahren seit dem Beginn ihrer Planung langweiliger, homogener, konfliktärmer geworden ist? Beziehungsweise die anderen abstrafen, also die Grünen, die parlamentarische Interessensvertretung, durch Stimmentzug, Kritik oder Schuldzuweisungen? Weil sie erst als Regierungspartei enttäuschend waren und jetzt in der Opposition weiterhin zahm sind?

Das Gerangel bei den Grünen um den Untersuchungsausschuss zum Irakkrieg dauerte Wochen, dem Rückbau der Biolandwirtschaft sehen sie unbekümmert zu, das neuerliche Gefeilsche um den Atomausstieg regt sie wenig auf, die Demontage des Sozialstaats geht weiter. Hörbarer grüner Protest? Fehlanzeige. „Ooooch“, macht Hans Zybura, so als langweilten ihn diese Themen fürchterlich, und dann sagt er, dass dieses schwache Verhalten der Grünen in der Opposition Pillepalle sei, gemessen an ihren Versäumnissen zu rot-grünen Regierungszeiten: „Ich habe der jetzigen Koalition gegenüber keine größere Furcht oder Hoffnung als zuletzt gegenüber der rot-grünen Regierung.“

Im Gegenteil. Die Bundeskanzlerin, lobt er, agiere „außenpolitisch ganz erfolgreich“, die Familienministerin sei ihm „nicht unsympathisch“, die Vereinbarkeit von Familie und Beruf, sagt Hans Zybura, die hätten sie doch im Waldquellenweg auch immer gewollt, und dass die CDU ein Herz für Besserverdienende hat – soll er, der erfolgreiche Unternehmer, sich denn nicht darüber freuen dürfen? Das Problem sei doch vielmehr, sagt Hans Zybura, dass politische Verantwortung heutzutage kaum noch eindeutig zuzuordnen sei. Dass politische Spielräume eng seien, wenn die Kassen leer sind. Dass ihm eigentlich die Zeit fehle, sich darüber den Kopf zu zerbrechen, er hat jetzt ein Softwareunternehmen. Und schließlich sagt der treue Grünen-Wähler: „Ich betrachte die neue Regierung jetzt erst mal mit kritischem Wohlwollen.“

Es war ein weiter Weg bis zu so einer Aussage.

Einige der heutigen Waldquellensiedler kannten sich bereits flüchtig, bevor sie später zusammenzogen, aus der Anti-AKW-Bewegung oder aus dem Umweltzentrum Bielefeld. Oder aus „dem Widerstand“, wie sie hier sagen, wenn sie die Demonstrationen gegen die Schnellstraße, den Ostwestfalendamm, meinen, der ihre natursteingepflasterte Spielstraße heute praktischerweise mit der Bielefelder Innenstadt verbindet.

Als Ende der 80er-, Anfang der 90er-Jahre die Ersten von ihnen Kinder bekamen, ließ sich der Wunsch nach dem eigenen Häuschen im Grünen nicht länger als ein bürgerliches „Niemals!“ abtun. Also kämpften sie sich durch öffentliche Fördermittelanträge, planten selbst, bauten selbst. Laien, die ein Ziel hatten: bei ihrer Selbstverwirklichung nichts dem Staat zu überlassen. Denn dem trauten sie nicht über den Weg, damals. Die Wege, die Kanalisation, die Energieversorgung, alles ist in der Ökosiedlung privat; selbst die Telekom endet an der Grundstücksgrenze. Die Unterausschüsse für Energie und ökologisches Bauen trafen sich – wenn nötig, mehrmals wöchentlich –, Fünfjahrespläne wurden aufgestellt und nicht eingehalten, andere Gruppen beschäftigten sich mit Konzepten antiautoritärer Erziehung und der Frage nach Gemeinschaftsküchen. Nicht jeder zog am Ende mit demselben Partner ein, mit dem er sich das alles anfangs ausgemalt hatte. Es waren tausende Stunden gelebter partizipativer Demokratietheorie.

Die Überreste davon kann man besichtigen, auf dem Weg zu dem ehemaligen Lehrer Hans Zybura in seinem Einfamilienhaus mit der Nummer 52. Auf dem Weg zu den Sozialarbeitern Gerda Konjer, 43, und Klaus Werner, 49, in ihrer Genossenschaftswohnung Nummer 16. Auf dem Weg zu der Buchhändlerin Maria Steinke-Rehmet, 51, und dem Bauingenieur Bernd Rehmet, 49, in ihrem Reihenhaus Nummer 10. Auf dem Weg zu den Menschen also, die vor elf, zwölf Jahren als Erste die Siedlung bezogen haben, heute etabliert sind und im Vorgarten einen Stellplatz für ihren Mittelklassewagen angelegt haben. Der Weg zu ihnen sieht aus wie ein historischer Lehrpfad der grünen Bewegung. Er ist gesäumt von Fenstern ohne Gardinen, von Vorgärten ohne Zäune, denn die sind weiterhin laut Satzung verboten (daher so mancher antifaschistische Schutzwall als Notbehelf nachbarschaftlicher Abgrenzung), von einem schwarzen Brett, an dem Massivholztreppen, Yogakurse und gebrauchte „Bibi Blocksberg“-CDs angeboten werden, sowie von Nachbarn, die sich konsequent duzen, unabhängig davon, wie nahe sie sich stehen, auch so ein Grundsatz, der sich gehalten hat. Und darüber hinaus?

„Darüber hinaus sind wir heute wohl eher wie der Durchschnitt“, sagt Maria Steinke-Rehmet, die Buchhändlerin. „Wir gehen jetzt in die nächste Planungsphase, Wohnen im Alter“, sagt Bernd Rehmet, der Bauingenieur, und zwinkert mit den Augen. „Alles, was ständige Arbeit macht, ist nicht mehr so gern gesehen“, sagt Hans Zybura, der alte Lehrer. „Die Luft ist raus“, sagt Gerda Konjer, die Sozialarbeiterin.

Sie ist raus aus der Siedlung, raus aus der Politik, sie haben ihre Pflicht getan, sagen sie übereinstimmend, und überdies haben sie Kinder großgezogen, die Rehmets zwei, Gerda Konjer eins, Klaus Werner zwei, Hans Zybura drei. Jetzt, finden sie, sind andere dran, Jüngere. „Seit die Häuser fertig sind“, sagt Gerda Konjer, „gibt es keinen Zwang mehr, sich auseinander zu setzen, also guckt jeder für sich selbst.“ Das jährliche Straßenfest, die Proben der Musikbands, die Fußballabende dann und wann gehören zu den wenigen Ereignissen, die die Anwohner noch verbinden. Dieser Zustand gefällt ihnen nicht, aber er stört sie auch nicht besonders. Sie wirken müde, wie sie dasitzen und Bilanz ziehen.

Vielleicht ist es das Eingeständnis der eigenen Unzulänglichkeit, das sie so versöhnlich klingen lässt, wenn sie später über die Grünen sprechen, über die Partei, der sie nun schon so lange die Treue halten. Bedingungslos, wie es scheint. In den Umfragen jedenfalls sind die Grünen stabil. „Sie sind das kleinere Übel“, sagt Maria Steinke-Rehmet, und, als sie merkt, dass diese Erklärung etwas dürftig ist, ein Wahlverhalten zu erklären, das nun schon Jahrzehnte währt: „Wir verbinden einfach was Positives mit denen, die sind doch unsere Generation.“ Sie könnte auch sagen: Bevor man die eigene Familie verrät, muss es schon richtig dicke kommen. Das ist nicht unbedingt politisch, aber verständlich.

Es sind längst nicht mehr politische Ansprüche oder Erwartungen, die sie an die Grünen binden, sondern die Trauer um die alten Zeiten. „Mensch“, sagt Gerda Konjer zu der 16-jährigen Tochter ihres Lebensgefährten, wenn sie fragt, wie es denn damals war, „das war eventmäßig, sich vor einen Wasserwerfer zu stellen.“

Ein paar Jahre später dann saß Michael Vesper, der Kopf der Grünen aus Nordrhein-Westfalen, bei ihr zu Hause am Küchentisch. Er war wichtig, er war Bauminister damals und stellvertretender Ministerpräsident, und genauso benahm er sich. „Er versprach das Blaue vom Himmel“, erinnert sich Gerda Konjer, es ging um Kredite, um Bürgschaften für die Genossenschaft. Geworden ist nichts daraus. „Entschieden“, sagt Klaus Werner, „hat am Ende der Kämmerer von Bielefeld.“ Heute können sie darüber lachen. „Damals waren wir extrem enttäuscht“, sagt Gerda Konjer. Aber seitdem immerhin wüssten sie, was sie von den Grünen zu erwarten hätten: nichts. Beziehungsweise: genauso wenig wie von irgendeiner anderen Partei sonst. „Die sind doch alle so nah beieinander, CDU, SPD, Grüne“, sagt Gerda Konjer. Sie beispielsweise sei jetzt beinahe froh, dass Deutschland von einer großen Koalition regiert werde: „Die Blockadehaltung ist weg, das ist doch positiv.“