: Die Spaltung der Gesellschaft
Von Integration wird in Deutschland hauptsächlich geredet – getan jedoch wenig. Über Diskriminierung und Chancenungleichheit wird dagegen lieber geschwiegen
Wenn man die letzten Wochen einen Blick in deutsche Zeitungen und Zeitschriften warf, dann konnte man den Eindruck gewinnen, als hätten viele zum ersten Mal festgestellt: In Deutschland, da leben Personen mit türkischer Herkunft, und die gehen nicht mehr in die „Heimat“ zurück. Das ist eine Erkenntnis, die sich offenbar recht langsam durchgesetzt hat. Erst 1998 hat die Bundesrepublik die Tatsache anerkannt, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist. Nun hat es noch mal acht Jahre gedauert, bis das Feuilleton der FAZ entdeckt, dass hierzulande Filme in türkischer Sprache gezeigt werden.
40 Jahre türkische Migration hin oder her, jetzt wird erst mal kräftig Hobby-Anthropologie betrieben: Und siehe da, bei „denen“ ist nicht alles so, wie es sein soll. Wenn die in die Kinos strömen, dann läuft da eigentlich kein Film, sondern eine „filmische Hasspredigt“. Kein Wunder, denn die Muslime, die werden ja täglich religiöser. Sie setzen sich ab, in „Parallelgesellschaften“, die man nicht mehr im Griff hat. Sie zwingen ihre Kinder zur Heirat, damit immer noch mehr von ihnen nach Deutschland kommen können. Und Deutsch sprechen sie auch nicht richtig! Mal ehrlich, wenn wir „die“ rausrechnen, dann würden wir gar nicht so schlecht dastehen.
Sicher, das ist polemisch: Es gibt ja auch all die Stimmen, die sagen, dass der überwiegende Teil der Türken und Muslime in Deutschland sich an die Gesetze hält und gut „eingepasst“ ist, wie Hans-Ulrich Jörges vom Stern in einer Talkshow meinte. Was jetzt her muss, heißt es, ist mehr Integration: Wir brauchen gute Sprachförderung, Imame, die in Deutschland ausgebildet werden, wir brauchen einen kontrollierten Religionsunterricht für muslimische Schüler und einen entschiedenen Kampf gegen islamische Fundamentalisten.
Stellt sich nur die Frage: Warum gibt es das eigentlich alles noch nicht? Antwort: Die „Multikulti-Träumer“ haben all das verhindert. Aber wer soll das sein? Die Beschuldigten sind so namenlos wie diejenigen, die hierzulande angeblich den Terror der „politischen Korrektheit“ verbreitet haben. Tatsächlich sollen sich aber wohl all jene angesprochen fühlen, die sich über die Jahre in Pädagogik, Wissenschaft, sozialen Einrichtungen und Verbänden mit dem Thema Migration beschäftigt haben und die genau das stets gefordert haben, das verhindert zu haben man sie heute zeiht: eine ernst gemeinte Integrationspolitik.
Aber darf man eine Minderheit denn nicht kritisieren? Hat der CDU-„Migrationsexperte“ Wolfgang Bosbach etwa Recht, wenn er sagt: Wenn man Probleme anspricht, dann gilt man gleich als „ausländerfeindlich“. Nun, selbstverständlich darf man: Man sollte sogar die Geschlechterverhältnisse kritisieren, gegen die Homophobie vorgehen und antisemitische Tendenzen benennen. Allerdings sollte man zwei Dinge dabei besser nicht tun. Zunächst darf man die Kritik nicht instrumentalisieren, um den Unterschied zwischen „ihnen“ und „uns“ zu zementieren. Denn Deutschland schneidet insgesamt im europäischen Vergleich nicht so gut ab, was die Gleichstellung von Männern und Frauen betrifft. Zudem wird einem jeder Aufenthalt in einer Männerumkleide nach dem Sport ziemlich schnell klarmachen, dass ein zünftiger Schwulenwitz hier nicht geahndet wird. Und Antisemitismus ist auch in der einheimischen Bevölkerung durchaus verbreitet.
Wenn man aber stets darauf hinweist, dass die Migranten sich an „unsere“ Regeln halten sollen und gleichzeitig all diese Phänomene mit „ihrer“ Kultur in Verbindung bringt – insbesondere mit dem Islam –, dann geht es nicht etwa um Integration, sondern darum, die Spaltung innerhalb der Bevölkerung voranzutreiben. So wird jeder Migrant schlicht zum Repräsentanten seiner Kultur. Das nimmt bizarre Züge an. So forderte etwa Wolfgang Bosbach in einer Talkshow einen in Deutschland geborenen Vertreter eines islamischen Vereinigung mit deutscher Mutter und ägyptischem Vater allen Ernstes dazu auf, sich für die Rechte der Christen in Saudi-Arabien einzusetzen! Ständig wird so mit doppeltem Maß gemessen, was die Migranten genau registrieren. Und das führt dazu, dass man lieber unter sich bleibt, als sich immer rechtfertigen zu müssen.
Zum zweiten muss man Veränderung auch tatsächlich wollen. Seit Jahrzehnten weisen alle, die sich mit dem Thema Migration befassen, darauf hin, dass über Integration hauptsächlich geredet wird – getan aber wird wenig. Die Pisa-Ergebnisse liegen nicht erst seit gestern auf dem Tisch. In einzelnen Schulen hat sich viel verändert. Aber wo ist das große Konzept, das die Probleme anpackt? Was machen die Länder, die doch für Bildung zuständig sind? Und was die Geschlechterverhältnisse betrifft: Wo sind die Massen von Sozialarbeitern, die ausschwärmen, um Frauen in besonders konservativen Familien zu helfen? Und ist es wirklich so, dass man Zwangsheiraten verhindern kann, wenn man gleichzeitig überall die Gelder für Frauenprojekte und -häuser zusammenstreicht? Der einzige konkrete Vorschlag, der auf dem Tisch liegt, ist die Heraufsetzung des Zuzugsalters bei Heiraten im Ausland. Doch Integration sollte mehr sein als nur der Ruf nach schärferen Gesetzen. Und auch mehr als das Geschrei der Kulturkrieger, die stets nach dem Einmarsch in die Parallelgesellschaft rufen.
Schon lange genug ist Integration kaum mehr als die Mohrrübe, die den Migranten vor die Nase gehalten wird. Der sie hinterherlaufen, ohne sie je zu bekommen. Jeder in Deutschland versteht etwas anderes unter Integration, aber eines ist klar: Den Maßstab für Integration legen die Einheimischen fest. Und sie befinden auch darüber, wer integriert ist und wer nicht.
Heute sitzen gebildete Frauen da und sagen zu Mädchen türkischer Herkunft: Mir reicht das nicht, dass du gut Deutsch sprichst und einen integrierten Eindruck machst; ich muss wissen, ob du „meine Werte“ teilst.
Die umgekehrte Frage ist nicht gestattet: Was tun Sie eigentlich für Integration? Warum schreit niemand „ Skandal“, wenn in Nordrhein-Westfalen die Arbeitslosenzahlen verkündet werden und die Quote bei so genannten Ausländern 29,7 Prozent beträgt? Hierzulande haben Leute aufgrund ihrer Herkunft ein dreimal höheres Risiko, arbeitslos zu werden. Zudem sind nicht alle Migranten Muslime. Die Bildungschancen italienischer Kinder gehören ebenso auf die Agenda wie der Religionsunterricht für Orthodoxe.
Am Ende muss man die Frage von Wolfgang Bosbach umdrehen. Tatsächlich werden die Minderheiten bereits permanent kritisiert. Aber kann man in Deutschland auch offen von Diskriminierung sprechen, ohne dass sich gleich jemand angegriffen fühlt und es heißt: So was gibt es doch gar nicht: bei „uns“!
MARK TERKESSIDIS