WOLFGANG GAST LEUCHTEN DER MENSCHHEIT : Suhrkamp, Notstand und ein Fass
Es war die erste Veranstaltung des Suhrkamp Verlags im neuen Berliner Sitz. Felix Ensslin, Autor, Dramaturg und Regisseur, stellte den jüngst in der edition suhrkamp erschienenen Band „Notstandgesetze von deiner Hand“ (2009) vor, in der die Briefe zwischen seiner Mutter, der RAF-Gründerin Gudrun Ensslin, und seinem Vater, dem Schriftsteller und Verleger Bernward Vesper, veröffentlicht werden.
In keinem anderen Dokument, so die Einladung, komme man der Entstehung der RAF so nahe, wie in diesem Briefwechsel aus den Jahren 1968/69. Nach all den Glorifizierungen und Verdrehungen der vergangenen Jahre, so sagt auch Felix Ensslin, bestehe nun die Möglichkeit, sich am Original ein Urteil zu bilden und einen tragischen Liebesbrief-Roman zu entdecken, der zugleich Realität war.
Die Lesung ist ein Ausflug in weit zurückliegende Tage: Wir gelangen an die Ausläufer der Studentenbewegung, einige der Revoltierenden haben sich radikalisiert – in Frankfurt am Main brennen zum ersten Mal zwei Kaufhäuser. Das Baby Felix, 1967 geboren, lernt seine Eltern nie richtig kennen. Die Mutter, eine der Brandstifterinnen, taucht 1969 unter. Bis zu ihrer Festnahme 1972 beteiligt sie sich an mehreren Anschlägen der RAF. Im Oktober 1977 – Höhepunkt des Deutschen Herbstes – begeht sie mit Andreas Baader und Jan-Carl Raspe in Stuttgart-Stammheim Selbstmord. Der Vater widmet sich ab 1969 dem Epochenroman „Die Reise“. Er erleidet einen psychischen Zusammenbruch und nimmt sich im Mai 1971 das Leben.
Kein Wunder, dass Felix Ensslin zögerte, ob er die Briefe, die er vor zehn Jahren erhalten hat, der Öffentlichkeit zugänglich macht. Dass er es getan hat, wird vom Publikum mit Applaus gefeiert. Einer bedankt sich überschwänglich für „das wunderbare Fass, das Sie aufgemacht haben“. Danach gab es Wein und Schnittchen.
Der Autor ist Redakteur dieser Zeitung Foto: privat