Reise der Ratlosen

FUSSBALL-EM Nach dem entsetzlichen 0:1 gegen Norwegen wird das Viertelfinale gegen Italien zum Schlüsselspiel für die völlig verunsichert und planlos wirkende Nationalelf

AUS FÄRJESTADEN FRANK HELLMANN

Es ist nicht angenehm, wenn mitten im südschwedischen Sommer schon wieder palettenweise Koffer und Kisten verladen werden müssen. Zeugwart Stephan Borde kam gestern zur Mittagszeit vor dem Mannschaftshotel in Färjestaden mächtig ins Schwitzen, als es galt den nächsten Umzug der Nationalmannschaft abzuwickeln. Draußen stapelten sich die stählernen Ungetüme, die nun wieder von der Ferieninsel Öland zurück ins Landesinnere müssen. Nach Växjo, wo diese diffuse deutsche EM-Vorrunde begann. In dem Studentenstädtchen steigt am Sonntag das Viertelfinale gegen Italien (18 Uhr/ARD). Die Partie zweier Gruppenzweiter gilt als Schlüsselspiel für die deutsche Jugendbewegung.

„Wenn wir ins Halbfinale kommen, fragt keiner danach, wie das zustande gekommen ist“, gab Celia Okoyino da Mbabi auf der Pressekonferenz die Losung aus. Die Torjägerin stellt mit ihrer Einsatzfreude noch immer ein Vorbild dar, und deshalb hat sie zusätzlich versichert, dass bitte schön niemand Parallelen zum Viertelfinal-Trauma 2011 ziehen soll. „Das ist weit weg, das belastet uns nicht.“ Das mag ja sein, doch all die blühende Zuversicht auf den achten EM-Titel, die per angehängten Armbändchen („Laganda 008“) ausgedrückt wird, scheint nach dem in jeder Hinsicht Besorgnis erregenden 0:1 gegen Norwegen latenten Selbstzweifeln gewichen. Der Eindruck: Ratlosigkeit greift um.

Und die Wortwahl wird drastischer. „Wenn wir nicht bald den Arsch hochkriegen, wird das kein gutes Turnier“, warnt Kapitänin Nadine Angerer. Abwehrchefin Annike Krahn sagt: „Unser Spiel war, auf Deutsch gesagt, Scheiße.“ Und: „Die richtigen Antworten haben wir auch nicht.“ Wenn selbst eine Welt- und Europameisterin nicht erklären kann, was Silvia Neid („Ich habe einige Fragen an die Spielerinnen“) bei der Analyse in Erfahrung bringen will, schrillen die Alarmglocken.

Ein Vorwurf der Bundestrainerin zielt auf Bequemlichkeit ab: „Wenn man sich nicht wohl fühlt, muss man sich reinbeißen.“ Talent genügt nicht, wenn der Wille fehlt – Spielmacherin Dzsenifer Marozsan darf sich angesprochen fühlen. Was bei ihr hilflos aussieht, schaut bei anderen kraftlos aus. Nadine Keßler hat wegen des Triple mit dem VfL Wolfsburg genau wie die erkrankte Lena Goeßling offenbar fast alle Reserven aufgezehrt. Simone Laudehr läuft nach einem Knorpelschaden ihrer Fitness hinterher. Damit stellt das angedachte Kraftzentrum im Mittelfeld die entscheidende Schwachstelle dar.

Offenkundig ist zudem, dass intern kein Plan B existiert, wenn das Kombinationsspiel stockt; dass es keine Spielerin in den Vordergrund drängt, wenn der Gegner Widerstand bietet. Dabei lief die Vorbereitung bereits am 2. Juni an – dieser in drei Lehrgängen zusammengezogen Kader besaß fast alle Zeit der Welt, Laufwege, Automatismen oder Standards einzuüben. Sollten tatsächlich die italienischen „Minimalistinnen“ (O-Ton Silvia Neid) bereits das Stoppschild setzen? Der Potsdamer Erfolgstrainer Bernd Schröder stellt bei einer Pleite die Position der Cheftrainerin unverhohlen infrage und hat als Nachfolgerinnen bereits Maren Meinert von der U20 und die Schweizer Nationaltrainerin Martina Voss-Tecklenburg genannt.

Der Verband möchte die Debatte nicht führen. Präsident Wolfgang Niersbach, der sich zu einem eventuellen Halbfinale ankündigt, gefällt das stark verjüngte Team – „egal, wie diese EM ausgeht“. Aber würde ein zweites Viertelfinal-Aus in Folge wirklich ohne Konsequenzen bleiben? DFB-Vizepräsidentin Hannelore Ratzeburg, die die deutsche Delegation leitet, gefällt die Fragestellung nicht. „Welche Fehler macht Silvia Neid? Sie kann doch nicht selbst mitspielen!“ Die Bundestrainerin braucht auf jeden Fall am Sonntag einen Sieg, um den südschwedischen Sommer ein bisschen unbeschwerter genießen zu können. Und Stephan Borde würde gewiss gerne wieder anpacken, um dann die Weiterreise nach Göteborg anzugehen.