Vom Fluch der Innenperspektive

ABWEHRSTRATEGIEN Die Fahrt übers Mittelmeer nach Europa endet für viele Migranten immer noch tödlich. Aber nicht nur deshalb wird „Das Geisterschiff“ von Margareth Obexer erneut im Theater Basel aufgeführt

Der Text des Stücks geht weit über moralische Entrüstung hinaus: Es erzählt von den vielen Absurditäten und Gedankenverrenkungen, die das Sicheinrichten mit dem Unglück hervorgebracht hat. Die Fakten sind dabei alle recherchiert, die Figuren erfunden

VON KATRIN BETTINA MÜLLER

Ein besonderes Interesse an der Katastrophe haben sie alle. Fast 300 Menschen sind ertrunken auf der Überfahrt nach Europa, gestorben durch unterlassene Hilfe für ein in Seenot geratenes Schiff in der Nähe Siziliens. Jahre später, als sich die angeschwemmten Leichen nicht länger verheimlichen lassen, lädt die Stadt Porto Celeste zu einem Kongress über das „Unbehagen über die Erscheinungen an den Rändern Europas“ ein. Das ist der Moment, indem Margareth Obexers Stück „Das Geisterschiff“ einsetzt. Denn dorthin sind per Schiff oder im Flugzeug alle unterwegs, die sich im „Geisterschiff“ mit der Geschichte der Ertrunkenen beschäftigen.

Mit dem Schiff reist zum Beispiel ein Bestattungsunternehmer an, der von einer Technik zur Bergung von Ertrunken und rechteckigen, gut in Transportkisten stapelbaren Urnen träumt. An seinem sarkastischen Pragmatismus reibt sich im Gespräch ein Philosoph, der den Fluch des Fliegenden Holländers als Allegorie der Gegenwart sieht: Jeder im gefestigten Europa trage doch Verantwortung für das Unterlassen von Hilfe für die Migranten, die über das Mittelmeer kommen, und wird deshalb von jenem Fluch getroffen, der schon den Fliegenden Holländer zu einem Untoten machte. Mit dem Flugzeug kommt ein ehrgeiziges Journalistenpärchen, das im Untergang der nie Identifizierten die Story sieht, mit dem die beiden einen Preis gewinnen wollen. Sie treffen in Porto Celeste auf einen Pfarrer und eine Bürgermeisterin, die sich ihre ganz eigenen Strategien zur Abwehr der Geschichte und zur Legitimierung ihres Verschweigens zurechtgelegt haben.

Groteske Realität

Im Theater Basel wurde „Das Geisterschiff“, das vor ein paar Jahren in Jena uraufgeführt wurde, jetzt wieder inszeniert: Sicher nicht nur, weil sich die Situation der Menschen, die nach Europa wollen und an seinen Grenzen zu Tode kommen, weiterhin verschärft hat. Sondern auch, weil der Text weit über moralische Entrüstung und schlechtes Gewissen hinausgeht: Er erzählt von den vielen Absurditäten und Gedankenverrenkungen, die das Sicheinrichten mit dem Unglück hervorgebracht hat. Die Fakten sind dabei alle recherchiert, die Figuren erfunden: Doch was sich nur in Form einer Groteske erzählen lässt, ist Realität.

In Basel nehmen die Regisseurin Florentine Klepper und die Jazzband Kolsimcha gerade das Groteske als Ausgangspunkt der Inszenierung. Bastian Trieb hat dafür einen Bühnenraum gebaut, der sowohl an das Ambiente eines Luxusliners als auch an einen Konferenzraum erinnert. Alle sind dort von Anfang an anwesend: Während der Text ihnen erst nach und nach dialogische Auftritte zu zweit gewährt, zeichnet die Inszenierung sie von Anfang an als eine konkurrierende Gruppe im Gewerbe der Betroffenheit.

Tanzszenen unterbrechen den Text, und da sind die Kongressteilnehmer, ihren souveränen, sich den Schrecken vom Leib haltenden und auf die eigene Position äußerst bedachten Redeweisen zum Trotz, alle von Unsicherheit befallen, vom Nicht-halten-Können der Positionen, von Störungen und Ausrutschern. In diesen bewegten Zwischenbildern werden sie selbst zu einer Gruppe der Untergehenden, und das Sichklammern an Rituale, etwa in einer Szene am Verhandlungstisch, nützt ihnen gar nichts. Die Band Kolsimcha spielt dazu einen Sound nahe am Klezmer, durchsetzt von ironischen und slapstickartigen Gesten, die dem Komischen der Tanzszenen sehr zugutekommen.

Im Text, der oft mit theoretisch ausgetüftelten rhetorischen Figuren spielt, holt den Philosophen und den Bestatter, die Journalisten und weitere Anreisende das Bewusstsein, selbst von einer nicht haltbaren Position aus zu operieren, erst nach und nach ein; in dieser szenischen Umsetzung ist es dagegen von Anfang an gegenwärtig. Dennoch wiegen der Pessimismus und die Kulturkritik, die Obexer in ihrem Stück übt, das auch schon als Hörspiel produziert wurde, in dieser unterhaltsamen Inszenierung nicht so schwer.

Margareth Obexer ist nicht die einzige Theaterautorin, die sich mit dem Thema der Abwehr der Migranten beschäftigt hat. Dirk Lauke schrieb „Für alle reicht es nicht“, von Anne Habermehl kam in Konstanz am Wochenende gerade „Territorium“ auf die Bühne. Diesen Stücken gemeinsam ist, dass sie nicht versuchen, denen, die nach Europa wollen und ferngehalten werden, eine Stimme zu geben, sondern sich mit der Perspektive der Zuschauenden auseinandersetzen wollen. Es sind keine Tragödien, die sich mit Pathos am fremden Unglück bereichern; obwohl einem solchen Spektakel vermutlich mehr mediale Aufmerksamkeit zuteil würde. Das Auskundschaften der Innenperspektive ist ihnen, den Autoren, und auch ihrem Publikum in den Theatern, viel näher und sicher auch eher von Erfahrung gesättigt. Und doch bleibt immer auch eine kleine Enttäuschung beim Lesen und Sehen der Stücke, dass wieder nur die europäische Befindlichkeit verhandelt wird.