Die Frau aus der ersten Reihe

„Feine Mischung aus Journalismus und Akupunktur“

GERALD FORD ÜBER HELEN THOMAS

Fünf Jahrzehnte lang gehörte Helen Thomas zum Kern der White-House-Korrespondenten. Über zehn US-Präsidenten hat sie berichtet, von John F. Kennedy bis Barack Obama. Der Sitzplatz in der Mitte der ersten Reihe bei Pressekonferenzen der US-Präsidenten war ihr sicher. Jetzt ist Helen Thomas mit 92 Jahren in ihrem Washingtoner Appartment gestorben.

Helen Thomas wurde 1920 als siebtes von neun Kindern einer libanesischen Einwandererfamilie geboren. Ihr Vater war Analphabet – und die Eltern sorgten dafür, dass alle ihre Kinder eine gute Schulbildung bekamen. 1942 zog sie auf der Suche nach Arbeit nach Washington und bekam schließlich einen Job bei der United Press, später UPI. Erst 1960 gelang ihr der Durchbruch, als UPI sie auf die populäre First Lady Jackie Kennedy ansetzte.

Aber das war immer noch Gesellschaftsberichterstattung, und Thomas wollte in den politischen Teil. Aber sowohl das Pressecorps des Weißen Hauses als auch die beiden wichtigsten Journalistenorganisationen waren reine Männerdomänen. Thomas setzte alles daran, dem ein Ende zu setzen, und schaffte das auch: Bis 1974 hatten alle ihre Tore für Frauen geöffnet, später war Thomas die jeweils erste weibliche Vorsitzende aller drei Vereinigungen.

Ihre Fragen bei Pressekonferenzen waren berüchtigt. Präsident Gerald Ford sagte über sie, sie praktiziere „eine feine Mischung aus Journalismus und Akupunktur“. George W. Bush ließ sie drei Jahre lang keine einzige Frage stellen. Als er es schließlich doch tat, begann sie mit den Worten „Sie werden das bedauern“ eine wahre Tirade.

Zu diesem Zeitpunkt hatte Thomas ihren Posten bei UPI aufgegeben, nachdem die Agentur an die rechtsradikale Mun-Sekte verkauft worden war. Thomas ging als Kolumnistin zum Medienunternehmen Hearst. Ihren Sitzplatz im Weißen Haus aber behielt sie.

Das Ende ihrer journalistischen Karriere kam, als 2010 eine Videoaufnahme auftauchte. Juden sollten „verdammt noch mal aus Palästina verschwinden“ und dahin zurückgehen, wo sie hingehörten, vielleicht Polen oder Deutschland, hört man Thomas da sagen. Dass sie wenige Tage später die Aussage mit Bedauern zurücknahm, nutzte nichts mehr. Sie gab auf. Doch in Erinnerung bleibt Helen Thomas als Vorreiterin des weiblichen Journalismus und als Institution, die mehr Präsidenten in Erklärungsnöte gebracht hat als irgendjemand zuvor. BERND PICKERT