: Die neue Totalitarismus-Debatte
Mit einem Manifest warnen zwölf Intellektuelle vor den Gefahren durch den Islamismus. Doch ihre Rede von der „totalitären Bedrohung“ führt leider in die falsche Richtung
Das Manifest hat etwas Berührendes, und das mag vielleicht auch am altmodischen Glauben liegen, die Schriftsteller, die hommes de lettres, könnten die Welt aufrütteln wie in Zolas Tagen. Wir sähen uns, proklamiert es, „einer neuen weltweiten totalitären Bedrohung gegenüber: dem Islamismus“. Zum „Widerstand“ wird aufgerufen und zum Kampf, der „auf dem Feld der Ideen“ gewonnen werden müsse. Es stehen sich gegenüber: „Demokraten gegen die Theokraten“.
„Wir weigern uns“, fährt die Proklamation fort, „wegen der Befürchtung, die ‚Islamophobie‘ zu fördern, auf den kritischen Geist zu verzichten.“ Der Appell richtet sich an alle, „damit unser Jahrhundert eines der Aufklärung und nicht eines der Verdummung wird“. Unterzeichnet ist der Aufruf von Intellektuellen und Autoren muslimischer Herkunft, darunter bewundernswerte Kämpfernaturen wie Salman Rushdie, Ayaan Hirsi Ali, Taslima Nasreen und Ibn Waraq sowie einigen französischen Autoren wie Bernard-Henri Lévy und Caroline Fourest.
Das „Manifest der zwölf“, wie es schon genannt wird, ist ein entschiedenes, mutiges, wichtiges Dokument. Gewiss, man darf bei Appellen dieser Art nie jedes Wort auf die Goldwaage legen – sie haben notwendigerweise etwas Suggestives. Die Frage ist aber: Stimmt das Gesamtbild, stimmt das Panorama, das die Autoren zeichnen? Wir kennen schließlich alle Aussagen, die nicht falsch sind, von denen wir aber sagen würden, an ihnen „ist etwas falsch“.
Komplexitätsreduktion ist nötig, um in einer unübersichtlichen Wirklichkeit überhaupt handlungsfähig zu sein. Zu viel Komplexitätsreduktion kann aber dazu führen, falsch zu handeln. Und diese Gefahr laufen die Autoren des Manifestes. Dies erweist sich am Gebrauch von zwei in dem Appell zentralen Begriffen: Am Begriff des „Totalitarismus“ und am Begriff der „universellen Werte“.
„Wir haben allen Grund, mit dem Wort ‚totalitär‘ sparsam und vorsichtig umzugehen“, schrieb schon Hannah Arendt in ihrer berühmten Studie „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“. Arendt unterscheidet zunächst totalitäre Herrschaft von totalitären Bewegungen. Der Begriff totalitärer Herrschaft ist für den Islamismus aus naheliegenden Gründen völlig unbrauchbar. In Iran haben islamistische Hardliner wichtige Machtpositionen, aber gewiss nicht die Gesellschaft unter jener Kontrolle, die totalitäre Herrschaft auszeichnet. Allenfalls wäre der Fall Saudi-Arabien diskutabel. Aber darum geht es ja offenbar nicht zentral.
So tut in diesem Kontext nur der Begriff der „totalitären Bewegung“ etwas zur Sache. Tatsächlich weisen die islamistischen Kernmilieus einige Charakteristika auf, die totalitäre Massenbewegungen im 20. Jahrhundert kennzeichneten. Der US-Autor Paul Berman hat die Ähnlichkeiten herausgearbeitet: Hass auf den Liberalismus, Hass auf den Westen, Antisemitismus, Todeskult, die Idee eines reinigenden Amargeddons, einer apokalyptischen Säuberung, nach der die neue Welt und der neue Mensch erst erstehen können; der Gestus moralischer Strenge, und die, wenn auch leicht wahnhafte, Vorstellung einer Ursprünglichkeit, die es wieder herzustellen gelte, wenngleich mit modernen Mitteln. Die dschihadistischen Organisationen konstruieren eine Wahn- und Parallelwelt, in die sich ihre Anhänger verpuppen und für die gilt, was Arendt so beschrieb: Ist der Rahmen intakt, dann „ist das fanatisierte Mitglied weder von Erfahrung noch von Argumenten zu erreichen“. Ihre Logik lautet: „den Gegner morden, anstatt ihn zu widerlegen, diejenigen, welche nicht bei ihnen organisiert waren, terrorisieren, anstatt sie zu überzeugen“.
Gewiss, wir können uns die islamistische Herausforderung mit der Axt so zuschlagen, dass sie in dieses Bild passt. Doch in diesen Rahmen passt nur die ganz kleine Minderheit der Dschihadisten und ihrer engsten Anhänger: vielleicht ein paar zehntausend, möglicherweise hunderttausend über den Erdball verstreut. Das ist keine totalitäre Massenbewegung, sondern eine Terrorsekte (die natürlich nicht ungefährlich ist).
Doch zur islamistischen Herausforderung wird die Chose erst, wenn wir jene hinzuzählen, die dem islamistischen Wahnsystem nicht vollends verfallen sind, aber doch einzelne seiner Begründungen anerkennen und einzelne seiner Motive teilen: die Frömmler, die sich in ihrer Lebensart bedroht sehen, diejenigen, die für die eingebildeten und tatsächlichen Demütigungen, die sie chronisch erleben, „dem Westen“, „den Juden“, „dem Kommerzsystem“ die Schuld zuweisen und sogar die säkularen muslimischen Intellektuellen, die sich der Re-Islamisierung nicht widersetzen. Über dieses kulturelle Umfeld des Islamismus ließe sich viel Kritisches sagen, aber schwerlich nur, dass es Teil einer weltweiten „totalitären“ Massenbewegung ist.
Das Manifest schlägt den Jargon des militanten Liberalismus an. Dessen Problematik besteht aber genau darin, dieses Dilemma einfach zu ignorieren. Er proklamiert „universale Werte“ und kümmert sich nicht darum, wie diese Proklamation auf der anderen Seite ankommt. Es schert ihn nicht, dass die andere Seite das Gefühl hat, der Westen setze sich als universale Norm, und dass sie sich in ihrer Überzeugung, unter der Kuratel westlicher Herrenreiter-Arroganz zu stehen, bestätigt fühlt. Er realisiert die Paradoxie nicht einmal, dass dieser Liberalismus jenen, denen er militant gegenübertritt, gerade als das erscheint, was er nicht sein will: eine Herrschaftsideologie. Wie er überhaupt alle Versuche, den Anderen zu verstehen, schroff als nützliche Idiotie delegitimiert, die den „Islamofaschisten“ in die Hände spiele. Dabei kann es natürlich nie zu viel Verständnis geben: Schließlich ist das Verständnis für die Motivation des Anderen die Bedingung dafür, dass das eigene Tun nicht das Gegenteil von dem bewirkt, was es zu bezwecken beabsichtigt.
Wer den Islamismus bekämpfen will, darf sich darum auch nicht „weigern“, von der Islamophobie zu sprechen – schließlich treibt diese ja die Moderaten in die Hände der Radikalen. All diese Dilemmata sind mit Manifesten nicht zu lösen und auch mit schönen Formeln nicht – wenngleich die sympathischste, die in der jüngsten Zeit dazu zu lesen war, vom Wiener Autor Doron Rabinovici stammt, der – Jitzhak Rabin paraphrasierend – schrieb: „Gegen antimuslimische Diffamierung gilt es aufzutreten, als gäbe es keinen Islamismus, und gegen den Islamismus muss gekämpft werden, als existierte keine Islamophobie.“
Ginge es tatsächlich bloß, wie im Manifest der zwölf proklamiert, um einen „Kampf der Demokraten gegen die Theokraten“, wäre das Problem wahrscheinlich noch einigermaßen simpel zu lösen. Aber es hat, ob einem das gefällt oder nicht, längst auch Charakteristika eines Kulturkampfs, in dem es wesentlich auch um Respekt und Anerkennung geht. Womöglich ist dafür die alte Brecht’sche Maxime der bessere Wegweiser als alte antitotalitäre Posen. Die lautet: Ein jeder rede über die Schande der eigenen Leute. ROBERT MISIK