: „Ein ganz neues Handwerkszeug“
Bildungssentorin Alexandra Dinges-Dierig (CDU) äußert sich im taz-Interview zur Kritik an der selbstverantworteten Schule. 2006 dürfen Schulleiter ihre Ziele selbst wählen, ab 2007 gibt die Senatorin sie von oben vor. Notenzwang bleibt
Interview: Kaija Kutter
taz: Sie planen zum 1. August die selbstverantwortete Schule. Eltern- und Lehrerkammer, GEW und Schulleiterverband lehnen dies in der geplanten Form ab. Beeindruckt Sie das?
Alexandra Dinges-Dierig: Ich denke darüber nach. Wenn Sie die Stellungnahmen lesen, sehen Sie, dass alle die Richtung gut finden. Sie wehren sich nur teilweise gegen Einzelheiten oder beurteilen Dinge anders. Die GEW schreibt zum Bespiel, dass wir keine Schulinspektion bräuchten, sondern eine Beratung der Schulen auf ihrem Weg. Wenn die GEW das Konzept richtig durchdrungen hätte, wüsste sie, dass die geplanten Ziel- und Leistungsvereinbarungen genau diese Beratung der Schulen sicherstellen. Und die Schulinspektion gibt den Schulen alle vier Jahre nur eine Rückmeldung. Die Schlüsse daraus zieht die Schule selbst. Das verstehen manche noch nicht, einige sind auch misstrauisch.
Warum warten Sie nicht eine Evaluation der 18 Versuchsschulen ab, die seit 2004 selbstverantwortet arbeiten?
Dieser Schulversuch wurde vor meiner Zeit angestoßen. Der Unterschied zu dem, was wir jetzt machen, ist enorm. Die 18 Schulen haben sich ohne Hilfestellung auf den Weg gemacht und in der Unterrichtsentwicklung sehr viel ausprobiert. Wir geben jetzt mit unserem „Orientierungsrahmen Schulqualität“ den Schulen ein ganz neues Handwerkzeug an die Hand. Sie wissen nun, wenn ich da und da etwas ändere, im Bereich Führung oder Unterrichtsentwicklung oder Feedbackkultur, dann dreht sich das Rad dorthin.
Aus besagtem Rahmen suchen sich die Schulen vier Ziele aus. Sogar Schulkleidung ist dabei. Das wirkt beliebig. Motto: Hauptsache irgendein Ziel.
Im Prinzip haben Sie Recht. Wir fordern jetzt ein neues Denken, das erst eingeübt werden muss. Bisher suchen sich die meisten Kollegien im Frühjahr pädagogische Schwerpunkte aus, ohne ein Ziel zu definieren.
Mir fehlt Ihre Zielvorgabe.
Die wird kommen.
Wie wäre es mit: Gute Schule fördert bestmöglich die Begabungsreserven aller Schüler?
Gute Aussage, aber ein weitreichendes Ziel. Unser Orientierungsrahmen bricht dies auf kleinere Einheiten runter.
Ist es nicht dringlicher, die Abbrecherquote zu senken, als Schulkleidung einzuführen?
Ja. Deswegen wird es Vorgaben geben, aber nicht im ersten Jahr. Es ist für mich eines der wichtigsten Ziele, diese Abbrecherquote zu senken. Die ist zu hoch. Und es gibt große Unterschiede zwischen den Schulen. Die einen haben 20 Prozent und andere nur fünf, bei gleichen äußeren Bedingungen. Wenn Sie das sehen, ist es bedauerlich, dass die Schulen noch nicht allein von einander lernen und wir dies steuern müssen.
Sie sind die Senatorin. Wissen Sie, woran das liegt?
Nein. Deswegen brauchen wir den Orientierungsrahmen so dringend, um zu erkennen, welches die Gelingens- oder Misslingens-Bedingungen sind.
Wenn Sie Leiterin einer Schule mit hoher Abbrecherquote wären, was wäre Ihr Ziel?
Dann würde ich mir als erstes diese hohe Quote vornehmen. Als zweites würde ich ein Schülerfeedback und ein Elternfeedback einführen. Und als Viertes ein Kollegen-Coaching.
Und hätten Sie ein Gymnasium, das viele Kinder abschult?
Dann würde ich mir als erstes diese hohe Rückläuferquote anschauen. Es sollte jenseits der 6. Klassen überhaupt nicht üblich sein, dass Schüler das Gymnasium verlassen.
Und an einer Grundschule?
Würde ich mich darum bemühen, die besten Diagnosefähigkeiten bezüglich der Kompetenzen der Kinder zu entwickeln. Es darf in einer Großstadt nicht passieren, dass so viele Migrantenkinder aufgrund ihrer Sprachfähigkeiten unterschätzt werden.
Warum vereinbaren Sie nur mit dem Schulleiter diese Ziele und lassen Lehrer, Eltern und die Schulkonferenz außen vor?
Ganz einfach. Dies ist ein Steuerungsinstrument zwischen dem Vorgesetzten und dem für das Ergebnis Verantwortlichen. Und das ist nun mal der Schulleiter. Er wird in Verantwortung genommen, im positiven und negativen Sinn. Wenn der Schulleiter einen Weg beschreitet, der nicht erfolgreich ist, gibt es nach zwei, drei Jahren einen Punkt, wo die Behörde steuernd eingreifen muss. In Unternehmen werden Zielvereinbarungen auch nicht offengelegt. Da aber Eltern in der Schule eine andere Funktion haben, habe ich entschieden, dass die Ergebnisse schulöffentlich werden. Über diese Rückkopplung können Eltern mitgestalten.
Worin liegt die Freiheit, die Sie den Schulen versprechen?
Darin, dass die Schulen entscheiden, welchen pädagogischen Weg sie gehen. Wir bauen Verwaltungsvorschriften Stück für Stück ab. Das Schulprogramm muss nicht mehr genehmigt werden. Beurlaubung von einzelnen Lehrkräften macht nicht mehr die Behörde, sondern der Schulleiter. Auch wenn Schulen jahrgangsübergreifend unterrichten, muss dies bald nicht mehr genehmigt werden. Aber all das bedeutet für die Schulaufsicht, dass sie ein Instrument braucht, um zu kontrollieren, ob die Schulen auch wirklich Schritt halten und die Schüler die Kompetenzen erreichen.
Ich sehe noch keinen großen Spielraum für die Lehrer.
Die Lehrer haben Spielraum. Sie können in der Konferenz gemeinsam Unterricht so gestalten, wie sie es meinen. Denken Sie an Rhythmisierung des Lerntages. Lehrer an einer bestimmten Schule berichten mir etwa, dass ihre Belastung ganz enorm sei, weil sie nicht mal eine freie Stunde haben, um Luft zu schnappen. Das ist ein Punkt, den nicht ich, sondern das Kollegium ändern muss.
Wie denn, wenn sie so viele Stunden geben müssen?
Indem sie Stunden anders verteilen. Sie müssen ja nicht sechs Stunden hintereinander haben. Das passiert nur, weil jeder ganz früh wieder Feierabend haben möchte.
Eine Freiheit, die Grundschullehrer wünschen, ist, wieder auf Noten verzichten zu dürfen. Sie hatten dies angekündigt. Wird da was draus?
Nein. Wir brauchen Noten, um eine Vergleichbarkeit herzustellen und um Kindern den Schulwechsel zu ermöglichen. Mein Ziel ist aber, dass wir bei den Halbjahrszeugnissen von ganzen Noten zu Viertelnoten übergehen. Ein Plus oder Minus hinter der Note sagt sehr viel genauer aus, wo ein Kind steht.
Lehrer beklagen den Druck, der durch die Vergleichsarbeiten ab Klasse drei entstehe. Diese machten individuelle Schülerförderung unmöglich.
Aber dieser Druck war früher auch schon da. Wir wissen heute aufgrund von internationalen Untersuchungen, welche Kompetenzen ein Grundschüler haben muss. Wenn sie den Eltern nur den individuellen Fortschritt des Kindes melden, dann heißt es in Klasse 4 etwa im Zeugnis, der Junge kann ganz toll im Zahlenraum von eins bis 20 rechnen, und die Eltern denken, es sei alles in Ordnung. Dabei ist das eine Sechs.
Auch von Gymnasiallehrern höre ich, dass sie heute weniger Freiraum für Projekte haben, weil viel für die Vergleichsarbeiten gepaukt werden muss.
Ich hab als Lehrerin mit meinen Schülern immer viel Projektarbeit gemacht, obwohl wir in Baden-Württemberg das Zentralabitur hatten. Und sie haben mit am besten abgeschnitten. Die Lehrer müssen den Unterrichtsstil verändern.
Der Verband der Schulleitungen ist entsetzt, weil es für die zusätzliche Arbeit keine Ressourcen gibt. Und gleichzeitig bleibt Ihr Behördenapparat mit 400 Verwaltungsleuten.
Schulleiter bekommen in erster Linie mehr Verantwortung. Das hat jeder akzeptiert. Was dabei nicht erwähnt wird, sind die reichhaltigen Entlastungen durch nicht mehr notwendige Absprachen mit der Behörde.
Dieses Argument nennen die Schulleiter „zynisch“.
So ist es eben mit Aussage und Gegenaussage. Ich könnte Ihnen genug Schulleiter nennen, die sagen, die Zeit, die sie brauchen, um sich mit der Behörde abzustimmen, hätten sie hundert mal für etwas anderes verwerten können.