DAUMENKINO : Kaspar Houser
Ein Film, der in diese Tage gut passt, wenn bei über 30° im Schatten alles langsamer wird, die Zeit eindickt und man idealerweise am Strand bei schwülem Disco-House zelebriert, wie der Kitt jedes Zusammenhangs porös und poröser wird. Den kargen Strand, den pumpenden Disco-House, die von Italiens Himmel jegliche Hoffnung auf Schatten wegbrennende Sonne gibt es reichlich in „The Legend of Kaspar Hauser“ – und alles in schönstem monochromen Grau. Plausible Zusammenhänge sind in Davide Manulis Beitrag zu einer sich lose formierenden neuen Welle des absurden Kinos (zu der sich weite Teile des neuen griechischen Kinos zählen lassen oder die lakonische Filmkunst-Kryptik von „Finisterrae“ des Spaniers Sergio Caballero) ohnehin kaum auszumachen.
Kein Theaterfundus-Kino: Die Geschichte vom Findling, der im frühen 19. Jahrhundert in Nürnberg auftaucht, gebrochen bis gar nicht spricht, fortan als Sensation gilt und wenige Jahre später einem Attentat zum Opfer fällt, das seiner Herkunft an Rätselhaftigkeit nicht nachsteht, dient hier allenfalls als Stichwortgeber, nicht als fester Bezugspunkt. Nürnberg ist hier Italiens Küste, Kaspar Hauser eine halbnackte, stets „Io sono Kaspar Hauser“ plappernde Frau im Rave-Chic und statt, wie der historische Hauser, am Klavier, soll er/sie am DJ-Pult ausgebildet werden: Kaspar Houser.
Drum herum: Gestalten, ein radfahrender Pfarrer, ein bockiger Esel und – der einzige, der große – Vincent Gallo in einer famosen Doppelrolle, einerseits als Drogendealer, andererseits als freakiger, direkt einem 70er-Acid-Western – vielleicht sogar Luc Moullets bizarr-kryptischem „Une Aventure de Billy le Kid“ – entsprungener Sheriff, der langhaarig und in engen Hosen eine unglaublich großartige Parodie des breitesten aller amerikanischen Dialekte hinlegt. In den ikonischsten Bildern des Films steht er so breitbeinig in einer dörren Brache wie einst Travolta auf dem Dancefloor und schnipst sich große UFOs herbei, die aufregend über die Landschaft sausen.
Was das alles soll? Man weiß es nicht wirklich. Aber das ist vielleicht auch gerade das Tolle an diesem flirrend-schönen Film, der melancholisch-spacigen House mit der Kargheit und Entrücktheit des europäischen Kunstfilms der 70er Jahre kreuzt, als sei dies die nächstliegende aller filmästhetischen Optionen. Man fühlt sich gedörrt wie unter heißer Sommersonne, kriegt unbändige Lust auf einen Joint und beobachtet Vincent Gallo beim Wirr-Sein. „The Legend of Kaspar Hauser“ lässt einen aus der Zeit fallen, wie er selbst aus der Zeit gefallen ist. THOMAS GROH
■ „The Legend of Kaspar Hauser“. Regie: Davide Manuli. Mit Vincent Gallo, Elisa Sednaoui u. a. Italien 2012, 95 Min.