: Diese Unfreiheit nehm ich mir
SCHULDZUWEISUNGEN Anke Stelling spielt eine Bankrotterklärung an Feminismus und liberale Erziehung durch: In dem Roman „Horchen“ kommt die Heldin mit dem Recht auf Selbstbestimmung nicht klar
Schon der Klappentext lässt hoffen: Im Kinderladen habe Katja, die Heldin des neuen Romans von Anke Stelling, gelernt, in sich hineinzuhorchen, heißt es da. „Horchen“ heißt das Buch. Das bringt einen auf eine Fährte: Es geht nicht mehr um die Kinder der 68er wie noch vor fünf Jahren – zum Beispiel in den oft unterkomplexen Abrechnungsbüchern von Sophie Dannenberg, Rainer Merkel und Richard David Precht –, es geht jetzt um die Generation Kinderladen. Eltern, die noch an die Weltrevolution glaubten, werden abgelöst durch die zehn Jahre jüngeren, die sozial bewegten. Vielleicht, denkt man noch, hat es sich jetzt endlich mal erledigt mit den leidigen Schuldzuweisungen.
Doch die Fährte ist leider eine falsche. Es mag bei Anke Stelling nicht mehr um Eltern gehen, die sich vor lauter Selbstverwirklichung reichlich wurschtig gegenüber ihren Kindern aufführten, mit den Schuldzuweisungen ist aber deshalb noch lange nicht Schluss. Elke, die Mutter der Heldin, will immer so lange reden, bis „ein umfassendes Gefühl von Verständnis und Einverständnis hergestellt“ ist. Sie findet den Lebensstil ihrer Tochter, die so viel Zeit hat, prima und übersieht dabei, wie unglücklich diese ist.
Und Katja? Katja kann Elke nicht mal mehr riechen. Sie hat bis auf die ausstehende Promotion alles, was sie will, und darum nichts mehr, woran sie sich reiben könnte. Sie ist eine von diesen Bewohnern des Berliner Stadtteils Prenzlauer Berg, wo seit dem Mauerfall mehr als achtzig Prozent neue Bewohner hinzugekommen sind, meist Wohlstandskinder aus dem Westen, die hier einfach alles richtig machen, vom biologisch korrekten Einkauf bis zum Fasten auf Hiddensee. Und wie das so ist bei denen, die alles richtig machen, leidet auch Katja unter einer inneren Leere, die sie mit einem Kind ausfüllen zu müssen meint.
So weit, so gut, glaubwürdig und detailgetreu und interessant – eine interessante Milieustudie des Prenzlauer Bergs. Doch irgendwann beginnt Katja sich für Dinge zu begeistern, für die sich eine echte Bewohnerin von Prenzlauer Berg niemals interessieren würde. Sie verliebt sich in einen Mann im tiefsten Osten, der meint, sie brauche „Führung“, und Anhänger einer Sekte ist. Und je mehr Katja in den Strudel der Abhängigkeit von diesem Mann gerät, desto mehr ist das, wozu sie erzogen wurde, an allem schuld: „… alle Freiheiten, das Recht auf Selbstbestimmung und die Chancen auf Gleichberechtigung“. Ein klassischer Fall von Nestbeschmutzung.
Mit dieser wäre auch der Motor dieses Romans beschrieben, der den Leser dranbleiben lässt: Man will wissen, wie sie da wieder rauskommt, diese unwahrscheinliche Katja, die alles, was die Simone de Beauvoirs und Alice Schwarzers für sie errungen haben, in die Tonne tritt. Das heißt aber nicht, dass man den Verlauf dieses Romans wirklich gut finden könnte. Vielleicht hätte Katja ihre Bankrotterklärung an Feminismus und liberale Erziehung mit mehr Humor durchbuchstabieren müssen. Am Erhellendsten wäre es aber gewesen, wenn Anke Stelling ihr gestattet hätte, das zu tun, was wirkliche Katjas tun. Sie hätte sie einfach weiterschmoren lassen sollen in ihrem Prenzlauer Berg. So wäre sie womöglich dahintergekommen, wer oder was wirklich für ihre Langeweile die Verantwortung trägt. Vielleicht sie selbst? SUSANNE MESSMER
■ Anke Stelling: „Horchen“. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2010, 222 Seiten, 18,95 Euro