: Avrupa Kültür Baskenti Istanbul /Europäische Kulturhauptstadt Istanbul – Ara Güler ist der Fotograf dieser Beilage
Das Istanbul, von dem Ara Gülers Fotografien berichten, ist so unwiederbringlich Vergangenheit, wie es nur auf wenige vergleichbare Metropolen zutrifft. Oder anders gesagt, wie es nur für Städte gilt, die in den letzten vier Jahrzehnten eine vergleichbar stürmische Entwicklung erfahren haben.
Solche Städte müssen geradezu legendäre Fotografen züchten. Denn diese zeichnet aus, dass sie die große Kränkung, die das Unwiederbringlichsein für uns darstellt, ganz persönlich nehmen. Sie begreifen die Kamera als Waffe, der endgültigen Niederlage zuvorzukommen. Zumindest im Bild halten sie das Unrettbare für spätere Zeiten fest. Deshalb kommen dann eines Tages die Schriftsteller zu ihnen und lassen sich ihre Archive zeigen. So wie Orhan Pamuk für sein Buch „Istanbul“ einen solchen großen Fotografen aufsuchte: Ara Güler.
Güler, 1928 als Kind einer armenischen Apothekerfamilie in Istanbul geboren, begann seine Karriere als Fotojournalist. Bald schloss er Bekanntschaft mit Henri Cartier-Bresson und Marc Riboud und wurde in deren elitären Zirkel der Fotoagentur Magnum aufgenommen. 1961 nennt ihn das Photography Annual dann schon einen der sieben besten Fotografen weltweit, das Museum of Modern Art in New York zählt ihn 1968 unter die „Zehn Meister der Farbfotografie“ und 1999 wird er in der Türkei als „Fotograf des Jahrhunderts“ geehrt.
Man muss von diesen Auszeichnungen gar nichts wissen; anhand seiner Istanbulbilder ist Güler als Ausnahmeerscheinung leicht zu erkennen. Als er in den 60er- und 70er-Jahren seine Geburtsstadt immer wieder fotografierte, mag es ihm vielleicht gar nicht bewusst gewesen sein, wie schnell sie sich verändern würde. In seinen Fotos allerdings liegt ihre dynamische Zukunft schon deutlich in der Luft. Neben Armut, technischer Unzulänglichkeit, Hilflosigkeit und altmodischer Gemächlichkeit sehen wir moderne Schnelligkeit, Ordnung, Disziplin und Autorität, die Sogkraft des Neuen, die den Alltag weiter umwälzen und eine andere modernere Armut, aber auch andere, modernere Kräfte, sie zu überwinden, hervorbringen wird.
Noch braucht es inmitten des kemalistisch-republikanischen Modernisierungseifers, des Betons der großen Straßen, Stadien und Bürokomplexe nur einen Schritt in die nächste Seitengasse, um sich in einer fremden Welt wiederzufinden; um auf Häuser zu stoßen, die noch ganz aus Holz und, obwohl heruntergekommen, doch einzigartig schön sind. Hier leben die „Mühseligen und Beladenen“, wie Orhan Pamuk in seinem Vorwort zu Ara Gülers Bildband schreibt. Verbraucht und verfrüht gealtert, zeigen sie, auf den Straßen der Stadt unterwegs, doch einen paradoxen Elan. In ihrem Treiben und dem der Frauen und Kinder, denen Gülers besondere Aufmerksamkeit gilt, zeigt die Stadt ihren Aufbruchsgeist – und der ist alles andere als unwiederbringlich dahin. BRIGITTE WERNEBURG
■ Ara Güler, Orhan Pamuk: „Istanbul“. Dumont, Köln 2010, 184 Seiten, 34,95 Euro