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Archiv-Artikel

Eine Chance und ihre Kosten

SKLAVEREI Das Schicksal und seine Überwindung: Toni Morrisons Roman „Gnade“ ist eine Reflexion über die Begabung zur Freiheit – und ein Gegenstück zu „Menschenkind“

VON KATHARINA GRANZIN

Gnade“ spielt Ende des 17. Jahrhunderts, zu einer Zeit, als die Ausbeutung von Menschen als Sklaven und der Sklavenhandel als Geschäftsmodell sich in Nordamerika erst so recht zu etablieren begannen. In eng um die Bewusstseinszustände der Charaktere geführten, dann wieder weit in die Vergangenheit ausschwingenden Erzählellipsen umkreist Toni Morrison die Frage, was Freiheit bedeutet, um letztlich eine so einfache wie ernüchternde Antwort darauf zu finden.

Eine geschäftliche Transaktion steht im Kern dieses vielschichtigen, vielstimmigen und chronologische Volten vollführenden Erzählens. Der Engländer Jacob Vaark, der, da seine Farm in einem der nördlichen Staaten der Neuen Welt nicht genug abwirft, mit den Großgrundbesitzern des Südens Geschäfte macht, sucht einen portugiesischen Tabakpflanzer auf, in dessen dekadente Lebensführung auch das Halten einer Schar afrikanischer Sklaven eingeht. Der Portugiese hat Schulden bei ihm. Widerstrebend und gegen seine Überzeugung akzeptiert Jacob ein achtjähriges Mädchen als Bezahlung, dessen Mutter ihm das Kind mit einem Ausdruck der Dringlichkeit hingeschoben hat.

Schöpferin von Leben

In dem unbestimmten Gefühl, wahrscheinlich das Richtige zu tun, nimmt er es mit. Doch sowohl Jacob als auch das Mädchen tragen von diesem Besuch eine schwere mentale Beschädigung davon. Die junge Florens wird viele Jahre unter der Überzeugung leiden, von der Mutter verstoßen worden zu sein. Jacob wird keine Ruhe finden, bis er es geschafft hat, ein ebenso prächtiges Haus zu bauen, wie der verachtete Portugiese es besitzt.

Drei weitere Frauen leben außer Florens auf Jacobs bescheidener Farm: Rebekka, seine Ehefrau, die er sich in der Alten Welt gegen Bezahlung hat besorgen lassen. Lina, die indianische Haushälterin, die Florens zur Ersatzmutter wird. Und die nichtsnutzige rothaarige Sorrow, die Jacob halb ertrunken aufgelesen hat. Alle Mitglieder dieser Schicksalsfamilie sind, auf ihre Weise, Gerettete; auch Rebekka, die froh ist, der städtischen Hölle Londons entkommen zu sein, auch Jacob, der als Waise aufwuchs.

Dass die Frauen als Jacobs Eigentum gelten, wird von allen als gegeben hingenommen. Ohne ihn wären sie schutzlos; doch auch er wäre ohne sie nichts. Rebekka wie Jacob sind, von Natur aus und gänzlich unreflektiert, Kinder der Aufklärung. Ihrem pragmatischen Pioniergeist ist der von katholischer Doppelmoral geprägte Dünkel der Sklavenhalter ebenso fremd wie die kleingeistige Frömmelei der Baptistensekte, die sich in der Nähe niedergelassen hat. Doch ihre Unabhängigkeit bedeutet in der neuen Welt auch Einsamkeit. Die Farm ist ein eigener, von der feindlichen Umwelt abgegrenzter und trotz der Weite der Landschaft enger kleiner Kosmos.

Toni Morrison, die bislang letzte US-amerikanische Literaturnobelpreisträgerin, ist als Erzählerin eine wahre Schöpferin von Leben; noch die kleinste Nebenfigur scheint beseelt vom Atem einer eigenen, unabhängigen Existenz. Doch bei aller Aufmerksamkeit für alle Figuren und trotz aller scheinbaren Abschweifungen kehrt die Erzählung immer wieder zurück zu ihrer Urszene, dem Moment, da Jacob das Mädchen annahm und seine Mutter es aufgab.

Es ist dies gewissermaßen eine Alternative zu der Urszene in Morrisons bislang bekanntestem Roman „Menschenkind“, worin die Protagonistin ihr Kind tötet, um es vor einem Leben in Sklaverei zu bewahren. „Gnade“ entwirft ein ungleich hoffnungsvolleres Menschenbild, wenngleich Aufopferungsbereitschaft und Klugheit auf Seiten der Mutter sowie reine Menschlichkeit auf Seiten des fremden Retters zusammenkommen müssen, um dem Kind Florens die Chance zu geben, irgendwann zu einem selbstbestimmten Leben zu finden. Es ist nicht mehr als eben dies: eine Chance, eine Gnade, gewährt zu eigenem Weitergebrauch.

Florens aber ist noch als Sechzehnjährige so sehr geprägt vom Schmerz des Verstoßenseins, sich so wenig des existenziellen Glücks bewusst, das ihr widerfahren ist, dass sie, um es zu begreifen, ihre tragische Urszene erneut durchleben muss. Die Erlösung kommt als Katastrophe, doch ist sie notwendig, um die innere Spannung des Romans aufzulösen und die Erzählung zu befreien von ihrem stets mitklingenden Orgelpunkt.

Bei Toni Morrison ist die Freiheit für den Menschen niemals absolut zu haben. Sie bedeutet immer auch Verzicht, denn das Streben nach ihr liegt im Widerstreit mit dem Streben nach anderen Dingen. Und so scheitern die Figuren letztlich fast alle, als Gefangene einer selbst gesetzten inneren Fixierung.

Jacob stirbt nach dem Bau eines Hauses, in dem niemand wohnen will. Rebekka, zermürbt durch den Tod von Mann und Kindern, sucht Halt bei den Baptisten. Florens, ja, Florens immerhin wird schließlich die innere Freiheit erlangt haben, ihre Mutter verstehen zu können. Sie wird die Erste sein, die sogar ihre eigene, durchlittene Geschichte überwinden kann. Denn Florens schreibt sie auf – und setzt damit zwischen sich und ihr Schicksal die Macht der Reflexion.

Doch sie steht noch am Anfang der Geschichte ihres Lebens. Eine Chance.

Toni Morrison: „Gnade“. Aus dem Englischen von Thomas Piltz. Rowohlt, Reinbek 2010, 224 Seiten, 18,95 Euro