Vier Versuche, gut dreinzuschauen

Ole Kretschmar und Asger Doenst importieren ausgemusterte Fotoautomaten. Für sie sind die Kästen mit der empfindlichen Mechanik „Traummaschinen“: Kunden können sich darin vier Blitze lang in jemand anderen verwandeln, Kretschmar und Doenst erfüllten sich damit den Traum von der Selbstständigkeit

VON TINA VEIHELMANN

Blitz. Erschrockene Augen. Blitz. Augen geschlossen. Selda beginnt zu lächeln, probt Mona Lisa. Blitz. Selda lacht. Mona Lisa kann sie nicht, darüber muss sie lachen. Blitz. Selda, strahlend, eine Locke im Gesicht. Jetzt schweigt der Automat. Selda schiebt den schwarzen Vorhang beiseite. Blinzelt.

Ole ist fasziniert. Es ist nicht mehr als ein Automat: eine Kamera, eine Kabine am Rosenthaler Patz in Mitte. Da sitzt jemand auf dem Höckerchen und probt, was er sein könnte; heraus kommt ein Bild, das vielleicht in zehn Jahren noch in der Schreibtischschublade des damaligen Geliebten liegt. Draußen laufen Hunde und Passanten.

Nach Selda setzt sich Yussuf und zieht den Vorhang zu. Der schüchterne Yussuf – jetzt ist er starker Mann. Yussuf mit geballten Fäusten. Blitz. Fäuste vors Gesicht. Blitz.

Ole hat sich verliebt – in alle Seldas und alle Yussufs dieser Welt und in die Metallkästen, die aus ihnen Prinzessinnen und starke Männer machen. Ole ist fürs Träumen. Alles, was nicht ist, ist nur etwas, das noch werden könnte. Und ein Fotoautomat ist viel mehr als eine Maschine. Er ist ein Raum, in dem eine Illusion entsteht.

Ole Kretschmar kauft alte Fotoautomaten, die ohne ihn längst auf dem Schrott gelandet wären. Er bringt sie nach Berlin, sucht Orte für sie aus und wartet sie. Eigentlich war das nie sein Plan. Aber Ole sagt: „Man muss sich immer vorstellen können, dass es auch anders sein könnte.“ Eine gute Idee entstehe dort, wo etwas nicht nach Plan verlaufen ist, wo Gewissheiten abhanden gekommen sind. Sie ist plötzlich da, wenn man, frei von allzu viel Sinn für die Realität, nach Möglichkeiten Ausschau hält. Wenn man den Zufall gewähren lässt.

Ole Kretschmar kann solche Sätze sagen, ohne dass man denkt, er sei auf einem LSD-Trip hängen geblieben. Wenn man mit ihm im Café sitzt und ihm eine Frage stellt, überlegt er einen kurzen Moment und antwortet dann, klar und entschieden. Wenn er sagt: „Mir war immer klar, dass man seinen Traum verwirklichen muss“, sagt er es so, wie andere sagen würden: „Mir war ganz klar, dass ich zur Business School gehen muss.“ Ole ist Anfang dreißig, Sportjacke, dunkles Haar, braune Augen. Er könnte Fahrradkurier, Barmann oder Unternehmer sein – man würde ihm das alles glauben. In jedem Fall aber würde man Ole und nicht Herr Kretschmar zu ihm sagen.

Ole ist ausgebildeter Drehbuchautor, sein Diplom hat er an der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin abgelegt. Er brachte Drehbücher und Geschichten zu Papier und Skizzen von Gedanken, die ihm durch den Kopf schossen. Er schrieb gern und viel – das meiste für die Schublade. Er jobbte als Tüteneinpacker, tippte Zahlenkolonnen für eine Marktforschungsfirma ab und räumte Warenlager auf. Diese Jobs verachtete er nie. Genauso wenig, wie er das Geld vom Sozialamt verachtete, das er in Anspruch nahm, wenn sich kein Job gefunden hatte.

Das ging so bis zu dem Tag, an dem Ole entdeckt wurde. „Es war genau so, wie man es sich erträumt“, sagt Ole. Eine Story für einen Kinofilm sollte es werden, und Ole war das junge Talent. Er kniff sich in den Arm, ob das alles wahr wäre und schrieb und schrieb und schrieb. Doch der Produzent des Films war nie zufrieden. Ole änderte sein Konzept, legte sich ins Zeug, schrieb Tag und Nacht, aber es half nichts. Das große Ding löste sich in nichts auf.

In der Zeit danach ging es Ole nicht gut, wegen des Scheiterns an der großen Chance, und weil er Geldsorgen hatte. Eigentlich war er es gewohnt, mit wenig auszukommen. Doch mit einem Mal hatte er es satt. Man braucht auch Geld im Leben, dachte Ole. Damit so ein Schnösel im Anzug einen nicht fertig machen kann. Man müsste eine rettende Idee haben, dachte er. Eine, die Geld erzeugt. Ole sann mit seinem Freund Asger Doens über rettende Ideen nach. Sie fanden heraus, dass man das Ideenhaben üben kann. Dass man den Kopf leer machen und abwarten muss, was geschieht.

An einem Tag im Januar 2003 waren die beiden in Zürich unterwegs, Bekannte besuchen. Sie hatten Zeit, schlenderten durch die Stadt und kamen an einem Fotoautomaten vorbei – einem von der alten Art, die Ole so liebte. Foto zu nur zwei Franken. Ole setzte sich hinein. Siegerpose. Blitz. Fäuste vors Gesicht. Blitz. Gerade. Blitz. Gegner k. o. Gewonnen! Dann Ole und Asger zusammen. Blitz. Sie fischten ihre Porträts aus dem knatternden Gebläse, zwei Freunde, in Schwarzweiß, auf der Suche nach einer Idee. Am nächsten Tag stand in der Zeitung: Zürichs ältester Fotoautomat wird verschrottet.

Da war sie, die Idee. Gute und billige Passfotos – das wäre genau das Richtige für eine verarmte Stadt wie Berlin. Der Automat würde dann für Ole und Asger Geld verdienen. Eine Maschine, die selbstständig arbeitet. Ein Menschheitstraum.

Ole und Asger fanden auf dem Automaten eine Telefonnummer, die wählten sie und erreichten einen freundlichen älteren Herrn. Sie fuhren hin. Es waren zwei Brüder, stellte sich heraus, die diese Fotoautomaten seit den 60er-Jahren aufgestellt und betreut hatten. Nun gaben sie auf – aus Altersgründen. Sie hörten schon am Klang, wenn mit der Mechanik etwas nicht stimmte. Zwei Wochen lang überholten sie ihre Maschine, dann gaben sie sie den jungen Männern mit auf den Weg. Ole und Asger liehen einen Laster und brachten ihre rettende Idee nach Hause. 8.000 Euro bezahlten sie für den Automaten, die Wartung und den Transport. Wenn man eine Idee umsetzen will, muss man entschlossen sein, sagt Ole.

In Berlin angekommen, suchten sie eine Stelle für den Automaten – und stießen auf ein Problem: Kaum ein Ort in Berlin ist frei von hochfliegenden Bauplanungen – die freilich erst in ferner Zukunft oder niemals realisiert werden. Aber verplant ist verplant. Nach langer Suche trat ein Pächter ihnen eine Nische zwischen einem Haus und einem Imbiss ab, die bislang von Punkern zum Pinkeln verwendet wurde. Sie lag am Rosenthaler Platz.

Gewonnen, dachten Asger und Ole. Sie reinigten die Pissecke, stellten ihren Automaten auf, setzten sich hinein und machten ein Probebild. Dann stiegen sie wieder aus und sahen sich an. Der Automat funktionierte nicht. In der folgenden Zeit wurden Ole und Asger, die eigentlich die Maschine für sich arbeiten lassen wollten, zu Spezialisten für ihren Kasten. Auch Ole hört nun am Klang, wenn die Mechanik ein Leiden hat. „Es ist ein hochsensibler Apparat“, sagt er. Es ist ein ganzes Fotolabor auf engstem Raum, in vier Bädern werden die Bilder entwickelt. Um die Entwicklerflüssigkeit zu transportieren, schafften sie ein Auto an. Sie fuhren ungezählte Male in die Schweiz, um Fachwissen einzuholen. Oles Wohnung sah mehr und mehr wie eine Werkstatt aus, und immer wieder traf er Freunde, die ihm sagten, dass sie seine Idee für großen Schwachsinn hielten.

Aber Oles Liaison mit den Blitzapparaten hatte erst begonnen. Sie besorgten weitere Fotomaschinen in der Schweiz und fanden Stellplätze für sie: in der Kastanienallee, in der Warschauer Straße und in der Marienburger Straße. Einer stand im Club Maria am Ostbahnhof und landete jetzt im Deutschen Historischen Museum.

Und es soll noch weitergehen. Die Geschichte wurde ein Erfolg, denn es war genau so, wie Ole und Asger es sich gedacht hatten: Die Berliner finden die alten Fotoautomaten „charmant“ oder „einfach billig, nur zwei Euro“. Sie kommen die Straße entlang, setzen sich in die Kabine und sind Filmstar oder starker Mann. „Ein Fotoautomat“, sagt Ole, „ist eine Traummaschine.“