: Ein erzieherisches Urteil
Nicht gegendarstellungsfähig: Johny Eisenbergs juristische Betrachtungen. Heute: Jugendgerichtsbarkeit
Berlin, Dezember 2005: Eine Horde junger Erwachsener pöbelt eine junge Frau auf einem U-Bahnhof an. Ein Bekannter der Frau weist sie zurecht. Sie greifen ihn an, stechen ihn ab. Er stirbt.
Hamburg, Reeperbahn Sommer 2005, frühmorgens, S-Bahnhof: Drei Männer, der jüngste 20 Jahre und 9 Monate alt, pöbeln. Der eine tritt einen Betrunkenen, der auf einer Bank liegt, in die Seite. Ein kräftiger junger Mann in Zivil, von Beruf Polizeibeamter, der zusammen mit seiner Freundin von einer Nachttour zurückkommt, spricht die Männer an: „Was soll das, der ist doch auch ein Mensch.“ Die Pöbler behaupten, ihn gehe das nichts an. Er beruft sich darauf, dass es ihn was angeht, weil er Polizist sei. Es kommt zum Handgemenge mit zweien von dreien, einer der beiden sticht bis zu elfmal zu. Dem Mann wird mit Notoperation das Leben gerettet. Angeklagt wird versuchter Totschlag. Der Stecher, Migrationshintergrund, unauffällig sozialisiert, gute Schuldbildung, spricht gut Deutsch, absolviert eine Lehre. Auffälligkeiten gibt es nicht. Ihm wird – er ist voll schuldfähig – die Anwendung von Jugendstrafrecht zugebilligt: Er sei „erst“ 20 Jahre und 9 Monate zur Tatzeit alt gewesen, lebe noch zu Hause. Seine Eltern kümmern sich um alles, zur Zeit der Währungsumstellung (da war er 17,5 Jahre alt) habe mal Geld gefehlt in einer Kasse, da habe sich der Vater drum gekümmert. Außerdem leide er an Asthma und sei egoistisch. Das zeuge für eine Reifeverzögerung, daher stehe er einem Jugendlichen gleich und sei wie ein solcher zu bestrafen. Folge: Er erhält (nur) eine Jugendstrafe von vier Jahren, sie dient dem Erziehungszweck.
Das Gesetz verlangt die Bestrafung eines „Heranwachsenden“ (von 18 bis 21 Jahre) als Erwachsenen, wenn jemand so entwickelt ist, wie ein 18-Jähriger üblicherweise entwickelt ist. Je älter ein Angeklagter ist, desto deutlicher müssen Reifeverzögerungen feststellbar sein. Hat ein junger Mann das 21. Lebensjahr vollendet, muss Erwachsenenstrafrecht angewandt werden. 18-Jährige wohnen häufig noch zu Hause und haben keine Berufsausbildung abgeschlossen. Müntefering wird dafür sorgen, dass sie zukünftig bis zum Erreichen des 25. Lebensjahres zu Hause wohnen müssen, wenn sie wirtschaftlich nicht auf eigenen Füßen stehen. Das allein ist also nicht ausreichend, um sie Jugendlichen gleich zu stellen. Unser Fall zeigt: Wenn nahezu beliebig – gegen Inhalt, Wortlaut und Geist des Jugendgerichtsgesetzes – jedem Heranwachsenden die Rechtswohltaten des Jugendstrafrechts zugestanden werden, dann provoziert das Rechtspolitiker dazu, „Verschärfungen“ des Gesetzes zu fordern. Die Rechtswohltäter riskieren damit, das eigentlich sinnvolle Jugendstrafrecht zu opfern auf dem Altar ihrer „Liberalität“. Dabei reichte es völlig, wenn das Gesetz nur richtig angewandt würde.
Unser Autor arbeitet als Strafverteidiger und Rechtsanwalt in Berlin