: Countdown einer Mutter
VON WALTRAUD SCHWAB
Nachdem Bianca Pohl * ihre Tochter 1988 in Ostberlin zur Welt gebracht hatte, packte sie Panik. Glückwunsch sagten die Leute, aber sie war niedergeschmettert. „Ich dachte, da hab ich jetzt 18 Jahre an der Hacke. Da begann ich rückwärts zu zählen. Statt 18 Jahren sagte ich mir: Nein, 17 Jahre, elf Monate und 30 Tage. Und tags darauf: 17 Jahre, elf Monate, 29 Tage.“ Bis heute wisse ihre Tochter nichts vom Countdown, sagt sie. Auch nicht davon, dass Pohl nun umgekehrt zählt. 237 Tage – dann wird das Kind 18. Plötzlich geht die Zeit schnell vorbei, wo es zuvor langsam ging. „Hotel Mama will ich trotzdem nicht sein.“
Bianca Pohl hat sich bei der Zeitung gemeldet, als Frauen gesucht wurden, die darüber sprechen, dass sie ihr Kind nicht richtig annehmen konnten. Am Ende war sie die einzige, die ihre Geschichte erzählte.
Als die Kleine zur Welt kam, war sie 35 Jahre alt. Eine Ausnahme in der DDR. Kinder kriegten Frauen dort meist Anfang 20, und anders als im Westen wurde Mutterschaft weit weniger infrage gestellt. Bianca Pohl aber konnte sich nicht als Mutter sehen. Sie hatte sich verliebt. Ein Jahr musste sie den Mann anbaggern, erzählt sie. Kaum war sie erfolgreich, war sie schwanger. Sie habe sofort über Abbruch nachgedacht, aber der Mann überredete sie. „Das kriegen wir gemeinsam groß.“ Und sie zu sich: „Du bist doch kein Unmensch.“
Bianca Pohl ist Modedesignerin. Sie hat sich die Schwangerschaft wegdesignt. „Ich hab sie clever vertuscht. Hab nicht die Nummer gemacht: ‚Hey guckt mal, ich bin schwanger.‘ “ Für Sozialwissenschaftler ist dies bereits ein Zeichen, dass das Mutter-Kind-Verhältnis nicht bedingungslos ist. Dabei ist es niemals bedingungslos. Nur dass es ein Tabu ist, dies zu sagen. Deshalb weiß niemand, dass Bianca Pohl einmal rückwärts gezählt hat.
Sie kommt aus der Nähe von Magdeburg. Ein Tausendsassa, eine mit Ideen im Kopf. Eine, die sich die Welt angeschaut hat, trotz DDR, die durch Osteuropa gereist ist. „Plötzlich aber konnte ich nicht mehr reisen, ins Theater, in die Kneipe gehen oder nächtelang an der Nähmaschine hocken.“ Dabei war ihr Kind pflegeleicht, „keine Terroristin“. Und der Kindsvater hat seinen Anteil an der Betreuung ernst genommen, beteuert sie. Nach ein paar Monaten habe sie zumindest aufgehört, die Tage zu zählen. „Dann ging die Mauer auf und ich dachte, jetzt will ich den Rest der Welt sehen.“ Sie hat es nicht gemacht.
Pohl musste ihre Leidenschaften weiter zügeln. Ihre Tochter war noch nicht in der Schule, da lernte sie einen anderen Mann kennen. Ohne Kind wäre sie durchgebrannt, meint sie. So aber lebte sie jahrelang in einer Dreiecksbeziehung mit Heimlichtuerei und „faulen Kompromissen“. Sie wollte dem Vater das Kind nicht entziehen.
Keine Minute spricht sie schlecht vom Kindsvater. Als er aber außerhalb Berlins einen Job bekommt, wird Pohl nach und nach doch zur allein Erziehenden. „Mit dem Bild der Rabenmutter habe ich mich auseinander gesetzt. Ich war doch berufstätig, musste zeitweise Nachtschichten machen. Ich hab auch Egoismen. Ich kann mich doch nicht aufgeben.“ Die Zerrissenheit zwischen ihr und dem Kind hat sie mit sich ausgemacht. „Gute Mutter, schlechte Mutter, gute Mutter, schlechte Mutter?“
Im Laufe der Jahre lernt Pohl die Welt durch die Augen ihres Kindes neu zu entdecken. Das bringt sie ihr näher. Am Zwiespalt ändert es nichts. Im Alltag wird sie zu einem Organisationsgenie. Oberste Prämisse: klare Ansagen. „Wenn ich sage, ich bin dann und dann zu Hause, bin ich dann und dann da. Wenn ich sage, das Pausenbrot liegt morgens auf dem Tisch, liegt es auf dem Tisch.“ Schon im frühen Teenageralter hat sich die Tochter daran gewöhnt, nachts mitunter allein zu sein. Auf der anderen Seite erwartet die Mutter von ihrer Tochter, dass sie sich genauso verlässlich an Abmachungen hält. Die Freundinnen des Mädchens halten die Mutter für streng.
Mutterliebe wird hoch gehängt. Hormone, die bei der Geburt ausgeschüttet werden, machen es den Müttern leicht, sich jahrelang Aufgaben zuzumuten, auf die man sonst lieber verzichtete. „Monatelang keinen erholsamen Schlaf, mindestens 3.000 Mal Windeln wechseln, seinen Körper zur Tränke machen, am Geschrei die Bedürfnisse des Kindes erkennen: Hunger, Langeweile, Angst, Müdigkeit, Schmerz“, sagt eine andere Mutter, sie hat eine Dreijährige. Sie liebe ihr Kind trotzdem.
Mutterliebe ist ein idealisiertes Phänomen. „Mutterliebe, man nennt dich des Lebens Höchste! So wird denn jedem, wie schnell er auch stirbt, dennoch sein Höchstes zuteil.“ Dieses poetische Zitat stammt von Hebbel, 19. Jahrhundert.
Was aber, wenn „Mutterliebe“ ihre Doppelbödigkeit offenbart? Was, wenn die Bedürfnisse des Kindes zu einer Zumutung werden? „Jede Mutter hasst ihr Kind irgendwann“, sagt eine junge Frau, deren Vierjähriger alle Aufmerksamkeit auf sich zieht. Sie kommt gerade aus einer Erziehungsberatungsstelle. Ob sie Genaueres erzählen wolle? „Nein.“
Die Beratungsstellen werden oft von Frauen aufgesucht, die ihre eigenen Ansprüche und die Erfordernisse, die Kinder an sie stellen, nicht mehr in Einklang bringen können. „Zuzulassen, dass dabei negative Gefühle dem Kind gegenüber entstehen können, ist eine der größten Herausforderungen“, meint Herma Michelsen, Vorstandsmitglied der Landesarbeitsgemeinschaft für Erziehungsberatung in Berlin. Darüber zu sprechen sei noch schwieriger.
Warum gibt es heute viele Menschen, die sagen, meine Mutter hat mich nicht geliebt, und kaum Mütter, die sagen, dass es tatsächlich so war? Verständlich wird diese Unsicherheit, wenn das gesellschaftliche Bild der Frau berücksichtigt wird: Mit der Entwicklung hin zur Kleinfamilie ist die Mutter in Deutschland kinderliebend in der Verantwortung, trotz aller Versuche, dies auch auf den Vater zu verteilen. Religiöse, kulturelle und historische Bilder lasten schwer auf ihr.
In der Fachliteratur wird selten von „Mutterliebe“ gesprochen, sagt Herma Michelsen. Es sei ein poetischer und mystisch aufgeladener Begriff. Im Vordergrund der Forschung steht die Mutter-Kind-Bindung oder auch Mutter-Kind-Interaktion. Die Ausrichtung der Forschung argumentiert aus der Sicht des Kindes. Ist die Beziehung zur Mutter nicht intakt, ist die Entwicklung des Kindes gefährdet. Seine Schwierigkeiten als Erwachsener führt die Psychologie gern auf emotionale Brüche zwischen ihm und der Mutter zurück.
Wer den Selbstläufer „Mutterliebe“ jedoch in Zweifel zieht, lenkt den Blick weg vom Wohl des Kindes hin auf das der Mutter. Auch sie hat eine Geschichte. Mütter, die sich als Kinder selbst ungeliebt fühlten, hätten größere Probleme, ihre Kinder anzunehmen. „Mühelos kann man den Kindern nur das geben, was man selbst bekommen hat. Alles andere muss man sich erarbeiten“, bestätigt Herma Michelsen. Frauen, die in Situationen seien wie Bianca Pohl, übernehmen zweifellos die Verantwortung für das Kind. „Die Freude stellt sich aber nur langsam ein.“
Die Konsequenzen gestörter Mutter-Kind-Beziehungen sind, so geht aus der psychologischen Forschung hervor, vielschichtig. Sie reichen klassenübergreifend von Depression bis zu Gewalt. Auf beiden Seiten, der des Kindes und der Mutter. Geht es ums Kind, wird bei der Mutter gern die Schuld gesucht, geht es um sie, ist sie selbst schuld.
Über die Konsequenz nicht erbrachter gesellschaftlicher Kinder- und Mutterliebe aber spricht niemand. Dies mag erklären, warum der einfache Weg, der Ehrlichkeit in die Mutter-Kind-Problematik brächte, ein Tabu ist. Denn wären die erlebten Defizite der Mütter öffentlich thematisierbar, würde deutlich, wie allein gelassen sie bleiben. Wie Bianca Pohl machen sie alles mit sich aus. „Dass ich rückwärts gezählt habe, das werde ich meiner Tochter irgendwann sagen“, meint sie. „Aber wann kann ich das tun? Und wird es für meine Tochter dann ein Affront sein?“
* Name geändert