: Auf Abstand zur Welt
KINO Der Blick aus dem Fenster als Liebeserklärung: Vincent Dieutres Filmessay „Jaurès“ beschwört die Erinnerung an ein vergangenes Glück
VON EKKEHARD KNÖRER
Es waren glückliche Jahre. Jedenfalls Jahre, in denen das Glück einen Namen hatte und einen Ort. Der Ort: eine Wohnung im Nordosten von Paris, an der Metro-Station Jaurès. Und der Name ist Simon. Vincent Dieutre, Filmemacher um die Fünfzig, hat Simon geliebt, der in Wirklichkeit anders heißt, der in diesem Film kein einziges Mal zu sehen ist, der Kino und Kunst für überflüssig hält, weil es Dringlicheres gibt, das Elend der Welt, gegen das er als Aktivist etwas unternimmt. Jeden Abend kam über Jahre hinweg Dieutre in die Wohnung an der Station Jaurès. Dort wartete Simon, sie hatten Sex, sie aßen, sie schliefen, sie sprachen, sie frühstückten und gingen dann jeder in seinen eigenen Tag. Der Filmemacher hatte seine Digitalkamera dabei und filmte, aber nicht das Drinnen, sondern nach draußen.
„Dein kleines Theater“, sagte Simon über die Szenerie vor dem Fenster. Erzählt Dieutre. Simon kommt selbst nicht zu Wort, bleibt abwesend. Er hat die Beziehung mit Vincent Dieutre nicht offen gelebt. Er hatte Familie, verschweigt den drei Söhnen die Existenz des Geliebten. Zwar hört man hier und da seine, Simons, Stimme, im Rücken der Kamera sozusagen. Manchmal übt er auf dem Klavier eine Melodie, ein melancholisches Lied von Reynaldo Hahn, dem Komponisten, den einst ganz Frankreich verehrt und den Marcel Proust rasend geliebt hat. Das eigentliche Off der Jaurès-Bilder ist aber ein anderes: Da sitzen er und seine Freundin Eva Truffaut in einer Mischung aus Tonstudio und Kino. Er zeigt die Aufnahmen, die er aus dem Fenster der Wohnung gemacht hat. Sie fragt, er erzählt. Von der Liebe, von den glücklichen Jahren, von Simon. Der Film, den wir sehen, besteht dann: aus diesen Aufnahmen vom Draußen, aus der Stimme, die fragt, und der Stimme, die erzählt und aus den Studiobildern von Dieutre und Truffaut.
Dieutre am Fenster hält Abstand zur Welt. Nur einmal geht er mit der Kamera wirklich nach draußen, sonst bleibt er drinnen. Aber was es alles zu sehen gibt im „kleinen Theater“! Da ist das Stadtleben, Menschen, Verkehr, bis spät in die Nacht und auch ganz früh schon im Morgengrauen. Die Metro ist eine Hochbahn und fährt so regelmäßig vorbei, als wollte sie sagen, dass nichts je ein Ende nehmen muss. Im Haus gegenüber arbeitet ein Künstler an Lichtinstallationen. Dann zieht er aus. Eine prächtige weiße Taube taucht irgendwann auf und kehrt mehrfach wieder. Vor allem aber blickt Dieutre nach unten, auf den Kanal St. Martin. An dessen beiden Uferseiten haben Flüchtlinge aus Afghanistan, alles Männer, ein provisorisches und illegales, über Jahre hinweg geduldetes Lager aufgeschlagen. Sie verschwinden am Tag, schlafen hier nachts. Tag für Tag klettern sie über einen mit Metallzacken bewehrten Zaun, den die Behörden aus reiner Schikane lange nicht öffnen.
Und hier schließt sich ein Kreis. Simon war ein Leben lang als Flüchtlingsbeauftragter in der Welt unterwegs. Noch jetzt, in den Jahren von „Jaurès“, kümmert er sich ehrenamtlich um die Sans Papiers von Paris. Die Insistenz, mit der Dieutre das Schicksal der Afghanen beobachtet, ist Teil der Liebeserklärung an Simon und an das ganz andere Leben, das dieser geführt hat. Am Ende wird das Lager geräumt, der Abspann des Films ist eine Anklage an die Politik Eric Bessons, jenes sozialistischen Wendehalses, der unter Nicolas Sarkozy Minister für Immigration und Integration war. Das macht „Jaurès“ nicht zu einem aktivistischen Film, sondern zu etwas viel Interessanterem: einem Film, in dem sich ein aus der Subjektiven arbeitender Filmemacher Rechenschaft zu geben versucht, wie er mit seiner Kunst die Welt an sich heranlassen und in sie hineinwirken kann.
„Jaurès“ bleibt meditativ, zögerlich und legt mit einer weiteren Bearbeitungsschicht noch einmal Distanz zwischen sich und die Realität. Ein Freund von Dieutre, der Künstler Guillaume Dimanche, hat die Aufnahmen der Digitalkamera in Teilen übermalt: ein Mast hier, ein Brückenteil da, ein Karton auf dem Boden, die weiße Taube, die Metro lösen sich als Animation für jeweils ein paar Sekunden fast aus dem Bild. Tatsächlich irritiert das beim Sehen, sorgt dafür, dass man sich nicht einrichten kann in diesem Film, in dem auf sanfte und sachte Weise so vieles ineinander aufgeht. Dabei ist da von Anfang an ein Schmerz und ein Riss: Simon ist aus Dieutres Leben verschwunden, „Jaurès“ ist ein Projekt der Erinnerung, eine Beschwörung des Glücks, das vorbei oder jedenfalls nur in der Form dieses Films für die Ewigkeit festzuhalten ist.
■ „Jaurès“. Regie: Vincent Dieutre. F 2012, 83 Min. Kinostart 8. August
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen