: Mit Dianabol, Anavar, Stromba . . .
STUDIE Mit Staatsgeldern und unter Druck medaillenversessener Politiker verabreichten Dopingärzte Sportlern ihre Präparate
■ Studien: Sportwissenschaftler wie der Saarbrücker Eike Emrich gehen heute von 30 bis 35 Prozent dopenden Sportlern aus. Der frühere Leichtathlet Edwin Klein befragte zuvor 180 Sportler verschiedener Nationen: 63 Prozent gaben an, sich regelmäßig zu dopen. 39 Prozent waren gar bei Kontrollen gedopt. 41 Prozent der Doper wählten Dosierungen bis zum Zehnfachen der empfohlenen Dosis. 400-Meter-Olympiasieger Edwin Moses schätzte 1983: „Die Hälfte aller US-Leichtathleten nimmt Anabolika, um ihre Leistungen zu steigern.“
■ Hochphasen: Bis 1960 wurde vor allem mit Aufputschmitteln gedopt. In den 60er Jahren kamen Anabolika auf. Das Muskelaufbaupräparat Dianabol kam 1959 auf den amerikanischen Markt und wurde sofort von Sportlern verwendet. Bis 1990 zieht sich die Ära des anabolen Dopings, erst dann wurden die Nachweisverfahren so gut, dass man auf das Blutdopingmittel Epo umschwenkte. Es sollte die 90er Jahre prägen. In den nuller Jahren dieses Jahrtausends kam vermehrt Eigenblutdoping auf. Aktuell sollen vor allem Fettverbrenner im Einsatz sein.
VON MARKUS VÖLKER
BERLIN taz | Bereits im November des vergangenen Jahres hätten die brisanten Ergebnisse der Studie „Doping in Deutschland“ vorgestellt werden sollen. Doch der Auftraggeber, das Bundesinstitut für Sportwissenschaft, machte es den Wissenschaftlern der Berliner Humboldt-Universität nicht eben leicht. Das Geld ging aus. Zwischenzeitlich hatte sich die Forschergruppe aufgelöst. Strenge Datenschutzrichtlinien machten angeblich eine Veröffentlichung schwierig. Damals war unklar, ob die Studie über systematisches und organisiertes Doping in Westdeutschland überhaupt erscheinen würde. Nun ist das 800 Seiten starke Dokument zumindest in der Redaktion der Süddeutschen Zeitung angekommen.
Selbst elfjährige Kinder erhielten Anabolika
Der organisierte Sport in Deutschland ist blamiert, was nicht nur an der Art der Veröffentlichung liegt, sondern auch an den Ergebnissen selbst. Die Forscher, allen voran Giselher Spitzer, kommen zu dem Schluss, „dass im westdeutschen Sport in einem erschreckenden Umfang und mit einer kaum glaublichen Systematik gedopt“ worden sei.
Mehrfach seien Anabolika auch an Minderjährige zwischen 11 und 17 Jahren verabreicht worden. Mitglieder der Bundesregierung sollen vor den Olympischen Spielen 1972 in München zur Verbesserung der Medaillenbilanz Druck auf Sportmediziner ausgeübt haben.
Sportfunktionäre hätten Dopingkritiker wie den Mainzer Apotheker Horst Klehr, in den 70er Jahren Mitglied der Antidopingkommission des Deutschen Leichtathletik-Verbandes, kaltgestellt. Zudem sei die Einführung effektiverer Trainingskontrollen auf nationaler Ebene teils mit fadenscheinigen Argumenten verschleppt worden.
Hinsichtlich der Dopingforschung, die durch das dem Bundesinnenministerium unterstellten Bundesinstitut für Sportwissenschaft seit den 70er Jahren über einen längeren Zeitraum insgesamt 10 Millionen Mark erhalten haben soll, berichtet die SZ über zahlreiche Tests mit Anabolika, Testosteron, Östrogen und Epo. Seien leistungsfördernde Wirkungen bei den Forschungen festgestellt worden, hätten die Experten den Wirkstoff ungeachtet möglicher Gesundheitsrisiken schnell zum Einsatz gebracht. Die Studie weist auch auf den 1.200maligen Einsatz einer nach dem damaligen Ruderstar Peter-Michael Kolbe benannten Spritze bei deutschen Athleten während der Olympischen Spiele 1976 in Montreal hin. Allerdings haben die damals eingesetzten Wirkstoffe auf keiner Verbotsliste gestanden.
Ist der größte Teil der westdeutschen Öffentlichkeit bis heute davon ausgegangen, dass systematische Profidoper nur hinter dem Eisernen Vorhang im Ostblock gesessen hätten, so belegt diese Studie, dass es auch in der Bundesrepublik eine Blütezeit des Dopings gab – mit staatlichen Finanzspritzen, medaillengeilen Funktionären und Dopingkontrollen, die diesen Namen nicht verdienten. Erst 1988 wurden in der BRD Trainingskontrollen durchgeführt – mit Ansage. Mittel der Wahl waren in Hamburg, München oder Düsseldorf anabole Steroide wie Dianabol, Anavar oder Stromba, Pharmazeutika, die der Muskelmast dienen und vor allem für Frauen erhebliche Nebenwirkungen haben. Aber auch bei Männern steigt das Herzinfarktrisiko auf ein Vielfaches. Der westdeutsche Kugelstoßer Ralf Reichenbach, der bereits 1972 Doping zugegeben hatte, leugnete noch kurz vor seinem Tod schädliche Nebenwirkungen von Anabolika – seine Herzleistung lag da bei nur noch 5 Prozent, und er stand auf der Liste für eine Herztransplantation.
Viele seiner Kollegen bekannten sich wie Reichenbach zum Dopingmissbrauch, der Hammerwurfweltrekordler Walter Schmidt, Kugelstoß-Europarekordler Heinfried Birlenbach, sein Kollege Gerd Steines, Hammerwerfer Uwe Beyer oder Sprinter Manfred Ommer. Ommer schätzte im Jahre 1977 den Anteil der in Westdeutschland dopenden Leistungssportler auf 90 Prozent. Der Hammerwerfer Edwin Klein meinte gar, nur 5 Prozent seiner Kollegen seien sauber. „Ein Mannschaftsarzt, der einem Athleten eine Apfelsine in die Hand drückt und ihn mit dem guten Rat in den Wettkampf schickt, sich noch einen Apfel zu kaufen, der ist die längste Zeit Mannschaftsarzt gewesen“, so Ommer seinerzeit. Die sogenannte Reiter-Kommission zur Aufarbeitung des Dopings in Deutschland kam 1991 zu dem Ergebnis: „Spätestens seit 1976 mussten die Verantwortlichen im (west)deutschen Sport Vermutungen und Kenntnisse vom Anabolika-Missbrauch im Leistungssport haben.“ Wer wachen Auges durch die Leistungssportwelt schritt, der stellte bereits Jahre davor fest, dass in der Szene flächendeckend und wohl auch mit einer gewissen Systematik gedopt wurde. Die Exleichtathletin Brigitte Berendonk fragte 1969 in der Zeit: „Züchten wir Monstren?“ Die Liste der Verharmloser und Dopingbefürworter in der BRD ist nichtsdestotrotz lang, selbst der frühere Bundesinnenminister Hans-Dietrich Genscher soll nach Informationen der SZ unter ihnen sein. Dass auch der heutige Finanzminister Wolfgang Schäuble Ende der 70er Jahre dazugehörte, ist seit Langem bekannt.
Nicht weniger schlimm als beim SC Dynamo Berlin
An manchen Standorten in der alten Bundesrepublik ist es wohl nicht weniger schlimm zugegangen als beim SC Dynamo Berlin oder dem ASK Vorwärts Frankfurt (Oder). Während vor allem die Uniklinik in Freiburg sportmedizinische Hilfe bereitstellte und das Dopinglabor in Köln hier und da assistierte, etablierten sich in der BRD immer wieder Dopinghochburgen. Im westfälischen Hamm etwa gab es so ein Zentrum des Dopingmissbrauchs: Hier wurden die Leichtathletinnen Helga Arendt (Hallenweltmeisterin über 400 Meter), Silke Knoll, Mechthild Kluth, Andrea Hannemann und Gisela Kinzel mit recht hohen Dosen gedopt. Drahtzieher war der heute in Erfurt tätige Rechtsanwalt Jochen Spilker. Auch beim LAC Quelle Fürth ging es hoch her. Dort praktizierte Coach Christian Gehrmann, Spezialist für Kugelstoßerinnen und Diskuswerferinnen. Brigitte Berendonk bezeichnete ihn als schlimmsten deutschen „Hormontrainer“. Er brachte Eva Wilms groß heraus, 1977 Sportlerin des Jahres, oder Claudia Losch, Kugelstoß-Olympiasiegerin von Los Angeles, 1984. Es ging ihnen allein um den Erfolg. Auch im Westen war man bereit, alles dafür zu tun.
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