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: Kein Tanzen um Bäume

Michael Winterbottom: „Trishna“ (GB 2011), ab ca. 14 Euro im Handel

Winterbottom drückt der Wirklichkeit nicht seine Handschrift auf, sondern begreift sich als Komplize von Orten, Darstellern und Realitäten

Der britische Regisseur Michael Winterbottom ist ein vielgewanderter Mann, seit Jahren zwischen einander denkbar fernliegenden Sujets und Genres unterwegs, von Science-Fiction bis Quasipornografie, vom Musikfilm zur linken politischen Intervention. Dazwischen liegen immer wieder Verfilmungen von literarischen Texten, an die sich sonst kaum einer rantraut. So hat er unter dem Titel „A Cock and Bull Story“ einen „Tristram Shandy“ nach Laurence Sternes auf den ersten und zweiten Blick wenig kinoaffinem Klassiker gedreht, sich aber auch mit weniger Glück an Jim Thompsons überfinsterem Noir „The Killer Inside Me“ versucht. Bei Winterbottom weiß man nie, was kommt. Er ist, darin am ehesten Steven Soderbergh ähnlich, durchaus ein Auteur mit wiederkehrenden Themen und wiedererkennbaren Strategien, dabei aber das gerade Gegenteil von jenen Künstlern, die ihr immer selbes Ding nur immer wieder ein bisschen anders machen.

Thomas Hardy, den wohl pessimistischsten unter den großen Autoren der britischen Literatur des 19. Jahrhunderts, hat er schon einmal verfilmt, vor bald zwanzig Jahren: „Jude“ mit Kate Winslet und Christopher Eccleston war ein düsterer und der Vorlage recht treuer Historienfilm, der keine Gefangenen machte. An Hardys „Tess of the D’Urbervilles“ geht Winterbottom vollkommen anders heran. Vermutlich schon deshalb, weil eine ihrerseits kanonische Verfilmung durch Roman Polanski – Titelrolle: Nastassja Kinski – bereits existiert. Winterbottoms Tess heißt nun Trishna (dargestellt von Freida Pinto). Die Geschichte spielt in der Gegenwart. Und sie spielt in Indien. Drei Verschiebungen, die sich mit einem vierten, recht radikalen Eingriff in die Vorlage verbinden. Die zwei Männerfiguren, die in „Tess“ diametral unterschiedliche Prinzipien verkörpern, hat Winterbottom zusammengelegt: Der rein spirituelle Angel Clare und sein rein sinnlicher Gegenpart Alec Stoke-D’Urberville sind hier eine Person, Jay (Riz Ahmed).

Hardys Romane sind ihrerseits schon Verschiebungen. Sie überführen die Konflikte der viktorianischen Zeit in klassische Tragödienstrukturen. Es geht um Sex und Ehe, Religion und Moral, Stadt und Land, Tradition und Fortschritt und nicht zuletzt um Klassenfragen in einer Periode radikalen technologischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Wandels. Die Verlegung in die indische Gegenwart ergibt darum einigen Sinn: Das Land trägt ähnlich gelagerte Konflikte in seinen Tigerstaatverwirrungen aus. Und weil ihn diese Gegenwart interessiert, ist Winterbottom der Gefahr nicht erlegen, Hardys Roman mit Gewalt über Land, Figuren, aktuelle Konfliktlagen zu stülpen.

Eher im Gegenteil. Winterbottom ist schon immer ein Liebhaber des Al Fresco. Er prägt der Wirklichkeit nicht seine Handschrift oder seine oder seiner Kollaborateure Drehbücher auf, sondern begreift sich als Komplize von Orten, Darstellern, Realitäten. In „Trishna“ spürt man, dass er möglichst viel von diesem Indien einfangen will – die atemberaubenden Landschaften Radschastans ebenso wie die Rasanz der Metropole Mumbai. Die Sequenzen sind schnell geschnitten, die Einstellungen kurz bis atemlos, die Dialoge häufig improvisiert, der Auslassungen sind viele, die böse ausgehende Liebesgeschichte ist mehr hingetupft und stenografiert als in die Tiefe erzählt.

Dazu kommen kluge Bollywoodanleihen. Kein Tanzen um Bäume, aber Kommentierung durch Hindisongs, außerdem in Mumbai ein kurzer Ausflug ins Filmstudio. Man folgt dem allen interessiert, weil man spürt, wie es Winterbottom gebannt hat. Als Verfilmung reüssiert „Trishna“ darum paradoxerweise gerade in dem Maß, in dem das Indien der Gegenwart alle Beteiligten nötigt oder verführt, sich von der Vorlage zu befreien.

EKKEHARD KNÖRER