: Schreigesang mit Küsschen
ROCK I Mit Fucked Up aus Toronto und der kalifornischen Legende Black Flag gastieren an zwei Konzertabenden die Gegenwart und die Vergangenheit des Hardcore in Kreuzberg. Die Pogerei klappte in beiden Fällen ganz gut
VON ANDREAS HARTMANN
Ein dicker, schwitzender Mann stürzt sich von der Bühne in die Menge. Er bahnt sich den Weg durch das Publikum. Das Mikrokabel folgt ihm, sein Schreigesang dröhnt durch den Raum. Mit nacktem Oberkörper umarmt er ein paar Leute im Publikum. Er pogt, wütet herum. „Ah, was für eine gute Therapie“, sagt er einmal zwischen den Songs.
Damian Abraham ist Sänger der kanadischen Hardcore-Band Fucked Up. Mit gefühlten 60 Grad hat der Magnet Club am Dienstagabend die richtige Betriebstemperatur für ein solches Konzert. Pogo, Stagediving, Mitgrölen: Die Zuhörerschaft, meist Menschen um die dreißig, nimmt das Angebot wohlwollend an. Abraham springt derweil auf die Theke und singt von dort aus, die Jogginghose in den Kniekehlen hängend.
Mit Fucked Up kam die Gegenwart des Hardcore nach Kreuzberg, am Mittwoch folgte die Vergangenheit: Black Flag spielten im Lido. Genau: Die Black Flag aus Kalifornien, die das Genre Hardcore Anfang der Achtziger mitbegründet hatten. Mit Gitarrist Greg Ginn und Sänger Ron Reyes reisten sie mit zwei frühen Mitgliedern der Band an – der berühmteste Sänger der US-Amis, Henry Rollins, war allerdings nicht dabei.
Im fast ausverkauften Lido ist das Publikum dann einige Jahre älter, die Pogerei klappt aber auch mit vierzig noch ganz gut. Altpunks, Skinheads, Männer in Feinripp und junge Frauen mit zerrissenen Nylonstrumpfhosen geben sich im Circle Pit, dem Kreis des Pogotanzes, die Klinke in die Hand. Viel nackte, tätowierte, schweißbeperlte Haut ist zu sehen.
Sänger Reyes, klein und massig, halblanges, dunkles Haar, trägt Songs des epochalen „Damaged“-Albums von 1981 vor, etwa „Six Pack“, „TV Party“ oder „Gimme Gimme Gimme“. Seine Gestik und Show wirkt dabei einstudiert. Zwar brüllt er ordentlich – die Kraft der frühen Alben aber, die seinerzeit der nihilistische, angepisste Gegenentwurf zur frühen Reagan-Ära waren, transportiert er selten.
Gitarrist Ginn spielt derweil immer wieder mit seinem Effektgerät herum. Eine interessante Maschine zwar – mit einer Art Antenne, die auf Bewegung reagiert –, es wirkt aber so, als hätte Ginn den Abend lieber in Zweisamkeit mit seinem Verzerrer verbracht. Wäre ja auch okay gewesen, nur zu den Liedern passte es nicht immer.
Ein Song wie „Rise Above“ funktioniert mit seinem schlichten, kämpferischen Refrain ganz ohne Effekte: „We are tired of your abuse / try to stop us it’s no use“. Alle Zeigefinger Richtung Bühne. Die Zuhörer im fast ausverkauften Saal wirken zufrieden. Rührende Szenen: Ein glatzköpfiger Mann, vielleicht in den Fünfzigern, verliert beim Pogo die Brille, ein Jüngerer hebt sie für ihn auf. Es folgen Küsschen.
Und trotzdem ist der Black-Flag-Auftritt insgesamt enttäuschend, zwischendurch gar langweilig. Man sollte sich heute vielleicht eher eine Band Achtzehnjähriger anschauen, die mit Hingabe Black-Flag-Songs covert, um zu verstehen, was diese Musik auszeichnet.
Oder man schaut sich die zeitgemäßeren Fucked Up an. Die liefern schließlich am Vorabend eine große Live-Performance. Und schaffen es doch, an alten Inhalten festzuhalten. Schließlich kümmert sich Abraham in seinen Ansagen noch um den Körper als Kapital, um es mal mit Pierre Bourdieu zu sagen. In Abrahams Worten: „Wir alle hier im Raum sind hässlich, aber wisst ihr was, die Schönen und Schicken da draußen sind auch hässlich. Vielleicht sogar hässlicher.“ Bei Abraham ist der Körper ein Akt der Rebellion. Free your body, and the rest will follow.
Auch die Mixtur aus melodischem Indiepunk, Pop und dem Schreigesang Abrahams bleibt den Abend über spannend. So eigenwillig wie gut ist der gesangliche Dialog zwischen Bassistin Sandy Miranda und Abraham, die dem brüllenden Frontmann mit klarem Sopran antwortet.
Was man dem Punk nachsagt, gilt auch für den Hardcore: Er sei längst ein Toter, der nur noch wie ein Zombie durch die Clubs zieht. Und die großen Innovationen des Genres – wie sie etwa Bands wie Refused oder At The Drive-In noch um die Jahrtausendwende schufen – scheinen tatsächlich nicht wiederholbar. Während aber ein lauwarmes Aufbrühen alter Songs wie bei Black Flag kein Mensch braucht, geben Bands wie Fucked Up wenigstens ein wenig Hoffnung.