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Archiv-Artikel

Reich in der Mitte

BÜRGERTUM Ist es ein Widerspruch, links zu denken und wohlhabend zu sein? Wir haben einige der Familien besucht, von denen Rot-Grün mehr Geld will

Die Grünen und das Geld

■ Die Pläne: Bei einer Regierungsbeteiligung wollen die Grünen mehr Geld von Wohlhabenden, also auch ihrer eigenen Wählerklientel: Der Spitzensteuersatz soll von 42 auf 49 Prozent für Einkommen ab jährlich 80.000 Euro erhöht, das Ehegattensplitting abgeschmolzen, eine Vermögensteuer eingeführt, die Erbschaftsteuer wie die Steuer auf Kapitalerträge angehoben werden.

■ Die Debatte: Für seine Steuerpläne wurde Grünen-Spitzenkandidat Jürgen Trittin heftig kritisiert. Steinbrück distanzierte sich, Kretschmann warnte davor, potenzielle Wähler zu verschrecken. Das Handelsblatt nannte Trittin den „neuen Feind der Wirtschaft“. „Kretschmann ermahnt die Grünen“, titelte die SZ.

VON ULRICH SCHULTE, MARLENE HALSER, LAURA HOFMANN, KRISTIANA LUDWIG, ANDREAS WYPUTTA (TEXT), VOLKER WICIOK, NIKOLAI WOLFF UND PIERO CHIUSSI (FOTOS)

An diesem Montagabend in Potsdam wird die Sache mit dem Geld plötzlich fürchterlich kompliziert. Das Smartphone summt, eine SMS blinkt auf: „Ich muss mich entschuldigen, da ich an der Friedrichstraße im Stau feststecke“, schreibt da die Frau des Mannes, mit dem man sich eigentlich verabredet hatte, um über die Familienfinanzen zu reden und das, was die Grünen damit vorhaben.

Der Mann hatte so nett geklungen am Telefon, ein Foto, alles klar, sagte er, und den ersten Termin habe er nur spontan absagen müssen, weil das Kindermädchen nicht konnte.

Stau, Friedrichstraße. Kein Problem, wir können ja warten. Ein paar Minuten später die zweite SMS: „Es tut uns wirklich sehr leid, aber wir müssten den Termin verschieben.“ Offenbar: für immer. Übers Handy ist auf einmal keiner der beiden mehr zu erreichen.

So ist das mit dem Geld in Deutschland. Niemand redet gerne darüber, schon gar nicht öffentlich. Selbst Gesprächspartner, die erst behaupten, es gerne tun zu wollen, überlegen es sich in letzter Minute anders.

Zu zeigen, dass man überdurchschnittlich viel verdient, gilt in Deutschland, anders als in Ländern wie den USA, mindestens als unfein. Je mehr Geld jemand hat, desto wahrscheinlicher scheint es, dass er nicht darüber spricht.

Das Ehepaar Unterstieger muss ein paar Sekunden nachdenken, ob es sich eigentlich reich fühlt. Stefan Unterstieger, 55, Lehrer, 66.000 Euro Jahreseinkommen, und Martina Unterstieger, 52, Managerin, 122.000 Euro, schauen sich in ihrem Wohnzimmer in München skeptisch an. Reich?

„Wir sind wohlhabend, aber nicht reich“, sagt er dann. Reich sei man, wenn man viel Überflüssiges habe, ein Konto mit 500.000 Euro, einfach so. Sie ergänzt: „Wir haben keinen Luxus.“

Die Unterstiegers heißen in Wirklichkeit anders, Name und Alter sind geändert, damit Kollegen oder Freunde sie nicht erkennen. Auch sie wollen nicht, dass jemand sie auf der Straße fragt: Was, so viel verdienst du?

Ihr Zuhause passt in das Schema dieses sehr deutschen Understatements. Eine ruhige Wohnstraße, ein Einfamilienhaus, an der Tür ein Windspiel, viele Bücher, ein schwarz lackierter Fahrradanhänger auf dem Rattanteppich. So sieht Normalität aus, Mittelschicht, gediegenes Bürgertum.

Die Unterstiegers repräsentieren Menschen, die hierzulande gar nicht selten sind: Sie verdienen gut, sind gebildet, denken libertär bis links. Sie sind die ökologisch bewusste Bioboheme. Ärztinnen und Oberstudienräte, Architektinnen und Unternehmer, die nicht nur in München-Schwabing oder in Berlin-Prenzlauer Berg leben, sondern auch in der Kleinstadt nebenan. Leute mit Geld also, die sozialdemokratisch oder grün wählen, aber nie die FDP. Grüne Gutverdiener.

Wenn sie am 22. September abstimmen, könnten sie die Auswirkungen ziemlich direkt spüren. Im Wahlprogramm listen die Grünen unter ihrem Chefplaner Jürgen Trittin mehrere Vorhaben auf, die für die Unterstiegers teuer würden. Sie wollen den Spitzensteuersatz von 42 auf 49 Prozent erhöhen, eine Vermögensabgabe einführen, das Ehegattensplitting – das Verheirateten Steuervorteile bringen kann – schrittweise abschaffen, die Erbschaftsteuer und die Steuer auf Kapitalerträge anheben.

Diese Pläne haben vor Wochen die ganze Republik beschäftigt, es war der erste richtige Aufreger in einem Wahlkampf, der bis dahin vor sich hin plätscherte wie lauwarmes Badewasser. CDU-Generalsekretär Hermann Gröhe schimpfte auf die „linke Umverteilungspolitik“ von Rot-Grün. Eric Schweitzer, der Präsident des mächtigen Deutschen Industrie- und Handelskammertags, drohte, die Pläne könnten zwei Millionen Jobs vernichten. Und der Spiegel, dessen Ressortleiter wohl sämtlich von derart steigenden Steuern betroffen wären, fabulierte sich mit ausgewählten Zahlen einen „Raubzug mit Ansage“ zurecht.

Das Thema provoziert. Die Reichen, die einen Angriff auf ihre Konten sehen. Die Armen, deren Neid geweckt wird. Und vielleicht besonders die, die ohne eine solche Steuerdiskussion nicht so viel darüber nachdenken müssten, dass sie längst zu diesen Besserverdienern zählen.

Grün zu wählen ist ja immer auch eine Entscheidung für das Gefühl, zu den Guten zu gehören. Dieses Selbstbild kam nie ohne Dialektik aus; auch ökologisch gesinnte Akademiker vergessen gerne den Klimawandel, wenn sie sich für ein verlängertes Wochenende in den Billigflieger nach Barcelona setzen.

Die Pläne für die Steuererhöhungen sind vielleicht der schmerzhafteste Realitätstest fürs grüne Ich. Grüne sind schließlich keine unsolidarischen Geizlinge. Oder?

Endet Linkssein vielleicht beim eigenen Konto?

Mit den Einnahmen will die Partei Gutes tun. Mehr Kitas bauen, die Universitäten besser ausstatten, die Energiewende endlich richtig anschieben. Zahlt etwas mehr für einen stärkeren, besseren und gerechteren Staat, lautet der Appell. Eigentlich passt er perfekt zu den Grünen, schließlich kennt sich niemand so gut mit besseren Gesellschaften aus wie eine Partei, die auf ihren Parteitagen Gebärdendolmetscher beschäftigt und nur vegetarisches Essen reicht.

Aber wie kommt diese Idee in bürgerlichen, gut verdienenden Milieus an? Endet Linkssein, wenn es an das eigene Konto geht? Was sagen die Familien mit solchen hohen Einkommen über Geld, über Solidarität und deren Grenzen, wenn man sie besucht? Und was sagt das wiederum über die Grünen, über das, was die Partei und ihr Milieu im 33. Jahr ihres Bestehens ausmacht?

Die Unterstiegers fühlen sich als ganz normale Familie. Zwei Kinder, der Sohn ist ausgezogen, die 17 Jahre alte Tochter hat ihr Zimmer unten, neben dem kleinen Weinkeller. Es gibt eine gemeinsame Haushaltskasse, aus der sie ihre monatlichen Ausgaben bezahlen: die Rate fürs Haus (2.000 Euro), Aktienfonds und Geldanlagen (1.000 Euro), Unterhalt für den Sohn (800 Euro), Versicherungen (600 Euro).

Beide sind gesetzlich krankenversichert, aus Prinzip, sie spenden im Jahr 3.500 Euro für den Naturschutz oder für Waisenkinder. Was das Steuerkonzept der Grünen sie kosten würde, haben sie noch nicht ausgerechnet. Allein durch den höheren Spitzensteuersatz dürfte es tausende Euro jährlich ausmachen.

Ist es ein Widerspruch, links und wohlhabend zu sein? Stefan Unterstieger denkt wieder ein paar Sekunden nach. „Das war mal so“, sagt er dann. „Es hat sehr lange gedauert, bis wir uns eine Putzhilfe geleistet haben. Heute denke ich, dass das kein Widerspruch ist, wenn man bereit ist, zu teilen.“ Seine Schmerzgrenze? Er würde auf bis zu 5.000 Euro im Jahr verzichten, wenn es dafür gerechter zuginge.

Dieses „wenn“ ist wichtig: Es markiert die Bedingung. Niemand gibt gern, ohne zu wissen, was er bekommt. Das ist das Problem der Grünen: Sie machen ein vages Versprechen, aber das eigene Konto interessiert viele Leute dann doch mehr als die Kita, die vielleicht irgendwann mal in der Nachbarschaft gebaut wird. Wenn überhaupt.

Wählen, das ist immer auch etwas Abstraktes. Man gibt einer Partei die Stimme, und die kümmert sich etwas konsequenter um den Mindestlohn, die Frauenquote oder die Energiewende als die andere Partei, aber man merkt das kaum im Alltag. Beim Zugriff der Grünen aufs Konto der Spitzenverdiener ist das anders. Fühlbar anders.

Grüne Spitzenpolitiker wie Jürgen Trittin gehen diese Wette auf die Wählersolidarität nicht ein, ohne sie kalkuliert zu haben. Sie betonen, dass die Belastungen nur eine Minderheit treffen – und 90 Prozent der Steuerzahler sogar um kleine Beträge entlastet würden. Und sie glauben, dass ihre gut verdienende Klientel solidarisch denkt. In einer Umfrage, die der Vorstand intern für die Wahlkampfstrategie in Auftrag gab, stimmen 71 Prozent der Grünen-Anhänger dem Satz zu: „Ich bin bereit, höhere Steuern zu zahlen, damit mehr in Bildung und soziale Gerechtigkeit investiert wird.“

Slodowys leben gut. Kachelofen, Miele-Geräte

Beeinflussen die rot-grünen Pläne die Wahlentscheidung der Unterstiegers? „Nein“, sagen beide gleichzeitig, schauen sich an und lachen.

Die Stichprobe

■ Recherche: Die taz hat für diese Geschichte ihre GenossInnen um Hilfe gebeten. Die fast 13.000 Menschen also, die unsere Zeitung mit Anteilen finanziell unterstützen. Wir haben per Mail gefragt, welche Familie mit hohem Einkommen mit uns über Geld reden würde. Die Stichprobe ist deshalb keineswegs repräsentativ. Innerhalb Grünen-affiner Milieus dürften taz-Genossen noch eine besondere Gruppe darstellen: eher engagiert und bereit, zu spenden.

■ Reaktion: Der Rücklauf war enorm. Rund 150 Antworten kamen, 26 Genossen bewerteten die Grünen-Pläne eher positiv, 11 negativ. 65 Genossen werteten nicht und boten sich an, über die Grünen-Pläne zu reden – meist allerdings nur ohne Namensnennung.

Sven Slodowy, 39 Jahre, kahl rasierter Kopf, runde Brille aus schwarzem Kunststoff, grün glänzendes Hemd, Sandalen, überschlägt das einfach mal im Kopf, kein Problem. Die Kosten? „Können wir jetzt eben machen.“ Slodowy ist Chef und Mitinhaber einer Marktforschungsagentur, seine Frau Inken arbeitet Teilzeit in der Firma mit. Sein genaues Einkommen will er nicht in der Zeitung publizieren, wenig ist es nicht.

Slodowy rechnet also los. 8.000 Euro würden durch den Wegfall des Ehegattensplittings fehlen. Noch mal 3.500 Euro wegen des Spitzensteuersatzes.

Er hält inne. Kann das sein? „Fast 1.000 Euro im Monat? Boah. Ich glaub, es hackt.“

Wir können Sven Slodowy an dieser Stelle beruhigen. Ganz so viel würde es nicht, selbst wenn die Grünen mit einer absoluten Mehrheit allein regieren dürften. Die Slodowys sind zu viert, Grete, 3, und Fritz, 6, gibt es ja auch noch. Die Grünen haben die Schrumpfung des Ehegattensplittings entschärft, sodass selbst gut verdienende Familien kaum verlieren. Und sie planen eine Kindergrundsicherung, die ebenfalls Eltern zugute kommt. Die Slodowys, das zeigen Modellrechnungen der Partei, verlören nur ein paar hundert Euro im Monat. Wobei dieses „nur“ natürlich Ansichtssache ist.

Die Slodowys leben gut. Dortmund, ein Haus mit Erker, Baujahr 1912, das sie gerade renovieren, davor ein schwarzer Citroën C5 Kombi. Drin eine Küche mit Nussbaumfronten, Miele-Geräten aus gebürstetem Edelstahl, ein helles Wohnzimmer mit Kachelofen. Slodowy hat oft die Linkspartei gewählt, erzählt er am Esstisch, weil er die Grünen zu marktliberal fand. Er nimmt einen Schluck aus der weißen Porzellantasse, Café crème aus dem Vollautomaten.

Es ist davon auszugehen, dass er die Umverteilungspläne der Linken nie durchgerechnet hat.

Dann landet er bei seinem großen Dilemma, bei der Frage, die all das umfasst. Geht das, im Kapitalismus erfolgreich sein, aber gleichzeitig links bleiben? Das richtige Leben im falschen? „Als Linken-Wähler konnte man seine Ambivalenz ja leben: Es tat nicht weh, aber man konnte sich trotzdem sauber verhalten.“

Auf die Linken ist da Verlass, sie erwecken recht zuverlässig den Eindruck, ihre Ideen könnten eh nie Wirklichkeit werden. Bei den Grünen sieht es anders aus. Der Distinktionsgewinn, den das Wahlkreuz verschafft, bleibt nicht folgenlos. Die Grünen wollen Ernst machen. Mit der SPD und vielleicht, ohne dass sie das jetzt sagen würden, sogar mit der CDU.

Slodowy honoriert die „ehrliche, klare Ansage“, sagt er. Kurze Pause. Aber er sei noch nicht sicher, ob er sie wählt. Vielleicht liegt der Extraluxus, die Bahncard 100, das Frühstück im Bahn-Bistro, doch näher.

Wenn man so will, ist Sven Slodowy gerade eine gespaltene Persönlichkeit. Er weiß, wie er sein will. Aber er weiß nicht, ob dieser Wunsch noch zu ihm und seinem Leben passt. Bald muss er sich entscheiden.

Die Frau, die Slodowy genau erklären könnte, was die Grünen mit seinem Geld vorhaben, heißt Ekin Deligöz. Deligöz, 42, Familienpolitikerin und Fraktionsvize, schulterlange braune Haare, rote Schuhe mit hohen Absätzen, schenkt an einem Freitag im Mai in ihrem Bundestagsbüro mit einer Hand Mineralwasser ein. Mit der anderen gestikuliert sie. „Eine längere Elternzeit wird schnell zum Karrierestopper.“

Sie hat das bei Freundinnen erlebt, Unternehmensberaterinnen stiegen als Teilzeitsekretärin wieder ein. Promovierte Politologinnen als Sachbearbeiterin. Weil Firmen ihnen nicht zutrauten, den Job mit Kind weiterzumachen. Weil eine vernünftige Betreuung, weiterhin Kitas fehlten, trotz des neuen gesetzlichen Anspruchs. „Das ist verrückt.“ Deligöz atmet einmal tief aus.

Manche Grüne fürchten, die Kappung des Ehegattensplittings könnte ähnlich wirken wie der berühmte „Fünf-Mark-pro-Liter-Sprit“-Beschluss. Der kostete sie damals, im Wahlkampf 1998, fast den Sieg. Deligöz glaubt das nicht. „Die Gesellschaft ist viel weiter. Selbst etliche CSU-Bürgermeister schaffen heute Kitaplätze für unter Dreijährige. Sie wissen, dass eine familienfreundliche Infrastruktur ein Standortvorteil ist.“

An dem grauen Aktenschrank neben ihrem Schreibtisch kleben Dutzende bunte Post-it-Zettel. Deligöz’ kleine Tochter und der Sohn ihres Mitarbeiters haben neulich hier gespielt, weil Kitastreik war. Deligöz will einen moderneren Staat, der berufstätige Frauen nicht mehr dazu zwingt, ständig zu improvisieren. Sondern ihnen bei der Kinderbetreuung hilft. Und sie weiß, dass das Geld kostet. Dafür legt sie sich mit einer der letzten konservativen Bastionen an, der Ehe. Und der Idee, dass allein das Versprechen von Mann und Frau im Standesamt, füreinander da zu sein, bares Geld wert ist.

Fühlt sich das Ehepaar Slodowy eigentlich reich? „Nee, reich, nee, man empfindet sich eher als wohlhabend“, sagt Inken Slodowy. Sie gehörten schließlich zur oberen Mittelschicht. Die Unterstiegers schätzen sich ähnlich ein. „Unser Einkommen betreffend, gehören wir zur oberen Mittelschicht“, sagt der Lehrer Stefan Unterstieger. „Was unser Lebensumfeld betrifft, sind wir Teil der Mittelschicht, unser Freundeskreis, unsere Interessen, wo wir uns wohlfühlen.“

Auch so ein deutsches Phänomen. Alle reden ungern über Geld, und alle fühlen sich in der Mitte. Irgendwie. Mitte fühlt sich gut an.

An schönen Wochenenden sitzen Bernhard und Marion Pennekamp oft unter der Markise, auf der Rückseite ihres roten Klinkerbaus. Pennekamp hat die Sonnenbrille ins Haar gesteckt. Er beobachtet den Wasserlauf, der in den Teich plätschert. Selbst ausgehoben. Auf der Oberfläche schwimmen Seerosen, am Rand stehen zwei Gartenhäuser zwischen Blumen. Eine Düse sprüht eine Fontäne in die Luft. Vom Holzsteg aus lassen die Pennekamps manchmal das Schlauchboot zu Wasser, wenn Kinder zu Besuch sind. Selbst haben sie keine, leider.

Bernhard Pennekamp will gern darüber reden, was sie vom deutschen Wohlstand abbekommen – und was sie abgeben würden. Aber nicht auf der Terrasse. „Hier haben die Büsche Ohren“, sagt er und zeigt mit der Stirn in Richtung Nachbarhaus.

Westen, Niedersachsen, 1.200 Einwohner.

Oberschicht laut Statistik. Aber nicht nach Gefühl

Bernhard Pennekamp ist 58 Jahre alt und Ingenieur, er schreibt Bauanleitungen für Industriemaschinen oder Aufzüge. Damit hat er sich selbstständig gemacht. Seine Frau Marion ist 51 und erledigt, was in der Firma anfällt: Papierkram, Telefonate, Fleißarbeiten. Um wieder als Physiotherapeutin zu arbeiten, reicht ihre Kraft noch nicht, auch wenn die Chemotherapie schon drei Jahre her ist.

Bernhard Pennekamp, das erzählt er dann im Haus, hat im vergangenen Jahr 114.000 Euro verdient.

„Veränderung muss möglich sein“, sagt Pennekamp, der Grünen-Wähler, auch was das Geld anbelange: „Wir wissen, dass wir den Wohlstand jeden Tag falsch verteilen.“ Er stellt Porzellantassen auf den runden Esstisch aus Kirschholz. 1,50 Meter Durchmesser – er hat ihn selbst entworfen und beim Tischler anfertigen lassen, genau wie den Fernsehschrank und die Regale. Eine Hängematte schwebt über dem Perserteppich im Wohnzimmer. Daneben steht ein Globus, so groß, dass Marion Pennekamp ihn nicht mit den Armen umfassen kann. 2.700 Euro sollte er kosten, sie hat gehandelt, auf 2.400.

Wähler in Niedersachsen

■ Familie: Bernhard Pennekamp, 58, ist selbstständiger Ingenieur. Er schreibt Bauanleitungen für Industriemaschinen und Aufzüge. Seine Frau Marion, 51, arbeitet in der Firma mit.

■ Einkommen: Zwischen 50.000 und 150.000 Euro im Jahr. 2012 waren es 114.000 Euro.

■ Kosten: Geht es nach den Grünen, müssen Pennekamps mehr für ihre Versicherungen zahlen, die sie jetzt 800 Euro im Monat kosten. Im vergangenen Jahr hat das Paar 6.850 Euro dank Ehegattensplitting gespart – die Grünen wollen das Splitting abschaffen.

■ Einschätzung: Sie: „Solange es gerecht zugeht: kein Problem.“

Ist das Reichtum? „Es mag sein, dass wir statistisch gesehen schon zur Oberschicht gehören“, sagt Bernhard Pennekamp: „So fühle ich mich aber nicht. Wir halten uns für Mittelschicht.“ Schließlich verprassten sie das Geld nicht, sondern gäben es auch ab: Mehrere tausend Euro spendeten sie jährlich an Kindernothilfe und Umweltverbände, sagt er. Je nachdem, wie das Geschäftsjahr gelaufen sei.

Aufgrund der Selbstständigkeit schwanke ihr Einkommen. Es gab Jahre, in denen sie nur 50.000 Euro verdient haben, in anderen war es das Dreifache. Pro Monat zahlen sie rund 1.300 Euro für das Haus, davon allein 100 Euro für Wasser, das der große Garten mit der Streuobstwiese braucht. Die Versicherungen buchen monatlich rund 800 Euro ab. Dass dieser Betrag steigen soll, wenn es nach den Grünen geht, damit sei er einverstanden, sagt Bernhard Pennekamp. Genauso wie mit der Abschaffung des Ehegattensplittings, auch wenn er damit im vergangenen Jahr 6.850 Euro gespart habe. Das falle bei seinen Verdienstunterschieden von Jahr zu Jahr eh kaum ins Gewicht.

„Ich würde mir wünschen, dass die Menge der Menschen in Deutschland so leben könnte wie wir. Dazu müssen ein paar von der Oberschicht Federn lassen“, sagt Pennekamp, „und wir vielleicht auch. Das würde uns aber nichts ausmachen, wenn wir wüssten: Es geht allen so.“

„Solange es gerecht zugeht, habe ich damit kein Problem“, sagt auch Marion Pennekamp.

Aber was hieße „gerecht“? Wer gehört zu der Oberschicht? Wo also fängt Reichtum an?

„Solange jemand reicher ist, ist man Mittelschicht“

Es gibt zwei Antworten: die subjektive der Pennekamps oder der Unterstiegers und eine statistische. „Selbst Menschen, die nach unserer Definition wohlhabend sind, zählen sich zur Mittelschicht. Die Deutschen tendieren dazu, nach oben zu blicken. Solange es noch eine Person gibt, die reicher als man selbst ist, muss man noch Mittelschicht sein“, sagt Markus Grabka.

Grabka, 45, kurz geschorener Haarkranz, zerknittertes Baumwollhemd, silbergraue Turnschuhe, beugt sich kurz hinter seinen Rechner, steckt das Kabel einer neuen Maus in die Rückseite, wirft die alte hinter sich auf den Boden zwischen die Papierstapel. „Dieses Phänomen ist kulturell bedingt. In der Bundesrepublik gilt den allermeisten Menschen die Zugehörigkeit zur Mitte als erstrebenswert. Der Soziologe Helmut Schelsky hat das mit dem Begriff der nivellierten Mittelstandsgesellschaft gut umschrieben.“

Eine Handvoll Wissenschaftler kennt sich in Deutschland wirklich gut mit der Mittelschicht aus. Grabka, ein schmaler Typ, der aussieht, als könne er um den Berliner Tiergarten joggen, ohne außer Atem zu kommen, ist einer von ihnen. Seit Jahren erhebt der Soziologe in seinem Büro am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung Daten über die Gruppe, zu der alle Deutschen gehören wollen.

Er schwenkt seinen Drehstuhl zum Bildschirm und markiert eine Zahlenreihe. Ein Chart mit vielen Prozentzahlen öffnet sich.

Darauf steht die statistische Antwort auf die Frage. Wohlhabend ist, wer mehr als 150 Prozent des Einkommensmedians verdient. Grabka schlägt die Beine übereinander, er formuliert schnelle, präzise Sätze.

Erst berechnen die Wissenschaftler das verfügbare Nettoeinkommen eines Haushalts. Sie ziehen also Steuern und Sozialabgaben vom Brutto ab oder berücksichtigen, dass ein Hausbesitzer die Miete spart. Dann machen sie die Haushalte, die ja oft aus Eltern und Kindern bestehen, vergleichbar, indem sie sie mit statistischen Verfahren auf eine Person umrechnen.

Weiter geht es mit einem Gedankenspiel. Die statistischen Deutschen stellen sich nach Einkommen geordnet in einer Reihe auf, der, der am meisten verdient, steht vorn, der mit dem geringsten Einkommen ganz hinten. Der Median markiert genau die Hälfte dieser Reihe.

Grabka kneift die Augen leicht zusammen und liest vom Bildschirm ab. Im Jahr 2010 galt nach dieser Definition ein Einpersonenhaushalt als wohlhabend, der mehr als 2.420 Euro im Monat zur freien Verfügung hat. Und eine vierköpfige Familie mit mehr als 5.080 Euro im Monat. „Die Festlegung ist selbstverständlich rein normativ“, sagt Grabka und lächelt.

Das heißt: Es ist nur eine Richtschnur von vielen, es gibt diverse Definitionen von Armut, Mitte und Reichtum. Und immer auch die jeweils eigene.

Ob sie sich reich fühlen? Wohlhabend? „Wohlhabend schon“, sagt Christian Hullmann am Esszimmertisch in Berlin-Zehlendorf; er trägt seinen Anzug, gleich muss er zur Arbeit. „Wir haben keine großartigen Geldsorgen, wir können die Schule für die Kinder bezahlen, Reisen, gutes Essen.“ Aber: „Mit ‚reich‘ hat das nichts zu tun.“

Ihr Haus liegt an einer Straße mit vielen Bäumen und großen Villen, heller Backstein, weinrote Fensterläden. „Das ist Luxus für mich“, sagt Julia Isfort, seine Frau. „Die Ruhe, das Fürsichsein. Dass die Kinder hier ungestört aufwachsen.“ Ihre vier Kinder können in dem wilden Garten auf der selbst gebauten Schaukel schaukeln, Dreirad fahren und in dem kleinen Gartenhaus spielen.

Wähler in Berlin

■ Familie: Christian Hullmann, 41, ist Partner in einer amerikanischen Anwaltskanzlei. Seine Frau Julia Isfort ist studierte Gymnasiallehrerin, hat aber das Referendariat nicht gemacht, weil die vier Kinder, heute 5, 8, 10 und 12 Jahre alt, dazwischenkamen.

■ Einkommen: Mehr als 100.000 Euro, verrät Hullmann. Ob es mehr als 200.000 Euro sind, nicht.

Kosten: Bei Umsetzung der Grünen-Steuerpläne würden etwa 1.000 Euro im Monat fehlen.

■ Einschätzung: Er: „Ich find das eher schwierig. Ich hab keine große Lust, solche Einschnitte hinzunehmen.“ Sie: „Ich denke, das ist dann einfach so.“

„Die Leute denken immer, wir hätten die große Villa, aber nein, wir haben das kleine Haus dahinter“, sagt Isfort, 39 Jahre. Auch ihr scheint dieses Understatement zu gefallen. Irgendwie: Mitte.

Morgens, halb neun. Auf dem Tisch steht Leinsamenbrei mit frischen Früchten. Das Wohnzimmer ist klein und voll mit Kisten, das Haus wird bald ausgebaut. Alles wirkt gemütlich und tatsächlich wie: Mittelschicht.

Christian Hullmann ist Partner in einer amerikanischen Anwaltskanzlei in Berlin. Julia Isfort ist studierte Gymnasiallehrerin, hat aber kein Referendariat gemacht, die Kinder kamen dazwischen. Sie sind Grünen-Wähler, als wirklich links bezeichnen sie sich nicht, als konservativ aber erst recht nicht.

Wie viel er verdient? Mehr als 80.000?

„Ja“, sagt Christian Hullmann.

Mehr als 100.000?

„Ja“, sagt Christian Hullmann.

Auch mehr als 200.000?

Christian Hullmann würde das Ratespiel jetzt gern beenden.

Über Geld denken sie wenig nach, versichern beide. Das sei schon immer so gewesen, auch als es weniger war.

Und auch für sie fühlt es sich komisch an: mit exaktem Einkommen und Bild in der Zeitung zu stehen.

Was sie die Steuerpläne der Grünen kosten würden, haben sie nicht genau ausgerechnet, aber Hullmann hat mal überschlagen: Etwa 1.000 Euro würden im Monat wegfallen.

Wären Sie bereit, die zu opfern? „Klar … nein, also ja“, sagt Julia Isfort. „Ich denke, das ist dann einfach so.“

Ihr Mann klingt ein wenig anders: „Ich find das eher schwierig. Ich hab keine große Lust, solche Einschnitte hinzunehmen. Wir leben im Moment so, dass alles ausgegeben wird.“

Für das Haus gehen 3.000 Euro im Monat drauf, für den Haushalt mit Essen etwa 2.000. Die Kinder gehen auf die Waldorfschule, das kostet für die vier 1.000 Euro. Die beiden Autos sind bezahlt, die Instandhaltungskosten betragen monatlich etwa 300 Euro. Und so weiter.

11,3

Prozent der Haushalte in Deutschland hatten 2003 ein Nettoeinkommen von mehr als 5.000 Euro im Monat Quelle: Statistisches Bundesamt

38,7

Prozent beträgt der durchschnittliche Spitzensatz der Einkommensteuer in der EU. Den höchsten hat Schweden (56,6 Prozent), den niedrigsten Bulgarien (10 Prozent) Quelle: Eurostat

7,5

Milliarden Mehreinnahmen könnten die Steuerpläne der Grünen dem Staat im besten Fall bringen Quelle: Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung

26

Milliarden Dollar beträgt das Vermögen von Karl Albrecht, dem reichsten Deutschen. Damit belegt der Besitzer von Aldi Süd Platz 18 unter den reichsten Menschen der Welt Quelle: Forbes

5

Prozent aller deutschen Haushalte würden durch die Steuerpläne der Grünen belastet. 90 Prozent würden entlastet Quelle: Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung

54,6

Prozent der Einkommensteuer tragen die oberen 10 Prozent der Steuerpflichtigen in Deutschland. Die unteren 50 Prozent tragen 5,4 Prozent der Steuerlast Quelle: Bundesfinanzministerium

Das Haus ist voller Instrumente: Klavier, Harfe, Oboe, Cello, Gitarre, Trompete und Geige wird hier gespielt. Pro Instrument der Kinder kostet das etwa 70 Euro im Monat. Da bleibt am Monatsende nichts übrig, sagt Hullmann. Sie müssten sich allerdings auch keine Sorgen darum machen, ob ein Kind mit auf Klassenfahrt darf, wenn die 500 Euro kostet. Bald fahren sie mit den Kindern nach Sizilien, um ihre Haushaltshilfe zu besuchen.

Das grüne Lebensgefühl erhalten – trotz Wohlstand

Wenn ihnen wegen der Grünen 1.000 Euro fehlten, müssten sie überlegen, worauf sie verzichten, sagt Hullmann. Auf ein Auto?

Julia Isfort hat das Ehegattensplitting immer als Belohnung gesehen, als Bezahlung dafür, dass sie so viel aufgegeben hat. „Meine besten Jahre, von 26 bis 38, habe ich keine Karriere als Studienrätin gemacht, sondern bin zu Hause geblieben.“ Wenn man das Splitting abschaffe, sagt Christian Hullmann, treffe das in erster Linie Familien. Und es macht ihm schlechte Laune, dass die Grünen jene benachteiligen, die sich entscheiden, ihre Kinder in den ersten drei Jahren zu Hause zu betreuen. Ab dem vierten Kind hatten sie Au-pair-Mädchen, um ihren häuslichen Betreuungsschlüssel zu erhöhen.

Seit Kurzem arbeitet Julia Isfort im Kindergarten in der musikalischen Früherziehung. Sie darf aber nur bis zu 450 Euro verdienen, sonst fliegt sie aus der Familienversicherung. Sie und ihr Mann sind gesetzlich versichert, er ist da der Einzige in seiner Kanzlei. Sie würde sich nie privat versichern lassen, das findet sie „einfach unsozial“.

Ob die Steuerpläne ihre Wahlentscheidung beeinflussen?

Christian Hullmann hat darüber nachgedacht. Vor zwanzig Jahren hätte er die FDP gewählt, die unter Gerhart Baum. Heute sieht er keine Alternative zu den Grünen. Umweltthemen sind ihm wichtig. Julia Isfort lacht und streicht mit ihren Fingern Anführungszeichen in die Luft: „Sie sind das kleinste Übel.“

Vielleicht geht es auch um dieses grüne Lebensgefühl, das man mit einer Wahlentscheidung festigt. Um ein Selbstbild, das man erhält. Trotz Wohlstand.

„Bei der CDU sind noch so viele Dinge, die nicht passen“, sagt Christian Hullmann. „Nur weil Frau Merkel nicht an die Steuer ranwill, auch so nicht viel sagt und damit keine Aufregung bei den Wählern erzeugt, kann ich sie noch nicht wählen.“

Er wird jetzt also erst mal dafür stimmen, dass sie ihm die 1.000 Euro wegnehmen.

Den Rest wird man sehen.

Ulrich Schulte, 38, leitet das Parlamentsbüro der taz

Marlene Halser, 36, ist taz-Korrespondentin in Bayern

Laura Hofmann, 22, ist Praktikantin der sonntaz

Kristiana Ludwig, 25, ist Volontärin der taz.nord

Andreas Wyputta, 44, ist taz-Korrespondent in NRW