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Archiv-Artikel

Ganz bewusst negativ

Necla Kelek hat erschütternde Berichte aus dem Leben muslimischer Strafgefangener gesammelt. Die Emanzipationsideale des Westens sind ihnen fremd. Diese Fälle sind jedoch alles andere als repräsentativ für die türkisch-muslimischen Einwanderer

Wieso sucht jemand, der Aussagen über Muslime treffen will, Gesprächs-partner nur im Gefängnis?

VON HEIDE OESTREICH

An der türkischstämmigen Soziologin Necla Kelek scheiden sich die Geister. Hat sie es geschafft, der fahrlässig ignoranten deutschen Gesellschaft die Augen zu öffnen für die Drangsal, die in der Migrantengemeinschaften herrscht – von Zwangsheirat bis Ehrenmord? Oder springt da eine begabte Autorin mit Hang zur Dramatisierung auf den Zug der „Schleierliteratur“, mit der deutsche Vorurteile gegenüber Muslimen bedient werden?

Leider stimmt beides. Denn trotz aller Schleierliteratur hat sich die Problemlage bedrängter muslimischer Frauen in bestimmten Einwanderermilieus nicht geändert, sondern durch den Druck des politischen Islam teils noch verschärft. Aber so bitter nötig Kritik an Migranten ist – wobei Polemik und Zuspitzung natürlich zulässig sind –, sie muss sich auch dazu verhalten, dass Muslime und Türken in Deutschland eben auch diskriminierte Minderheit sind. Grobgeschnitzte Bilder von „den Muslimen“ und „den Türken“ werden von der Mehrheit dankbar aufgenommen und als Munition für weitere Diskriminierungen eingesetzt.

Diesen Kollateralschaden aber nimmt Kelek in ihrem neuen Buch wieder billigend in Kauf. Wie schon ihr Erfolgswerk „Die fremde Braut“ ist auch „Die verlorenen Söhne“ eine bewusste Negativauswahl, ein „Worst of Islam“. Obwohl Kelek selbst das Buch als „qualitative Sozialforschung“ über muslimische Männer ankündigt, erfüllt es diesen Anspruch nur in einem Teilbereich. Kelek hat strafgefangene muslimische Männer interviewt. Man fragt sich allerdings: Warum sucht jemand, der Aussagen über muslimische Männer treffen möchte, seine Hauptgesprächspartner im Gefängnis?

Selbstverständlich findet sie dort Musterbeispiele für unglückliche Menschen, die herzzerreißend schreckliche Familiengeschichten haben und offenkundig nach Regeln leben, die mit der hiesigen Gesellschaft nicht vereinbar sind. Sonst säßen sie nicht im Gefängnis. Kelek aber suggeriert mit dieser Auswahl, es sei geradezu ein Versäumnis der Integrationspolitik, dass der Rest der türkischen Männer noch frei herumlaufe.

Kelek mischt diese Aussagen mit persönlichen Erfahrungen: Szenen aus dem Kreuzberger Freibad, die Beschneidung ihrer Cousins in Anatolien, ihre eigene Befreiungsgeschichte, die über einen Axt schwingenden Vater, Max Weber, Jesus und griechischen Göttinnen verlief. Aus all dem generiert sie Bilder von „dem muslimisch-türkischen Mann“, die eine wortgewaltige und mitreißende Anklage anreichern. Dass es auch andere Erfahrungen gibt, ist ihr zwar bewusst. Doch Kelek will anprangern und wählt deshalb Negatives aus – wozu es durchaus Gründe gibt.

So bietet sie spannende Einblicke vor allem in das Leben einer bestimmten Gruppe türkisch-muslimischer Männer. Die Strafgefangenen kommen meist aus der türkischen Provinz, in der von Atatürks autoritärer Modernisierung nur das Autoritäre, nicht aber die Moderne angekommen ist. Dem Staat und seinen Werten fühlen sich die Familien der Interviewten deshalb nicht verpflichtet. Die Regeln bestimmt der Clan. Darin gilt das Gesetz des Vaters oder des ältesten Bruders. Dieser muss die Ehre der Familie wahren, was letztlich in die Gängelung und nicht selten in die Misshandlung der Frauen mündet.

Die Geschichten der jungen Männer bebildern eindrucksvoll das Elend, das diese archaische Denkweise hervorruft. Es sind Jungen, denen Gefühl und Schmerz verboten sind. Sie entwickeln keine Individualität, sondern sind darauf gepolt, dem Gesetz des Vaters, der absoluten Autorität, zu genügen. Zu den eindringlichsten Passagen in Keleks Buches zählen die Berichte von der Beschneidung ihrer kleinen, zutiefst schockierten Cousins, denen mit der Bluttat die Ohnmacht vor dem Gesetz der Familie in den Leib geschnitten wird.

Frauen sind in diesem Denken nur als Dienerinnen und Mütter zugelassen, auch sie sollen keine eigenständige Persönlichkeit ausbilden – das gibt nur Ärger. Die arrangierte Ehe hat deshalb auch Vorrang vor der Liebesheirat, die als instabil angesehen wird. Und ob die Kinder damit einverstanden sind, ist wegen der Ausrichtung auf das Wohl der Familie uninteressant. Ein Ergebnis dieser Ignoranz kann ein total verkorkstes Sexualleben sein. Bei Kelek lesen sich die entsprechenden Berichte, als sei dies eine Zwangsläufigkeit.

Keleks Band bietet wertvolle Einblicke in die Inkompatibilität dieses Systems mit den Emanzipationsidealen des Westens. Wer nicht möchte, dass das Kind selbstständig wird, wird sich allen pädagogischen Bemühungen der deutschen Gesellschaft widersetzen. Und wo man den Koran zur Begründung heranziehen kann, wird man es auch tun.

Am Beispiel Religion lässt sich aber ebenso gut zeigen, wie sehr Keleks Darstellung einseitig idealisiert. Mohammed habe eine autoritäre Herrenreligion voller Gesetze hinterlassen, Jesus dagegen nur das Gebot der Liebe, so ihr Vergleich. Dass Mohammed keine staatlichen Strukturen vorfand, während Jesus im römischen Reich agierte und deshalb keine Gesetze brauchte, solche historischen Einordnungen finden nicht statt.

Hinzu kommt: Die unzähligen Menschen, die gerade im Namen der „Liebesreligion“ Christentum geopfert wurden – „Hexen“, Juden oder Abtrünnige – kann man mit dieser schlichten Wahrnehmung nicht erklären. Wie blind die starke Identifikation mit dem Goldenen Westen machen kann, zeigt ein weiteres Beispiel: So schreibt Kelek, die Gleichberechtigung von Mann und Frau sei „der Lackmus-Test für die Muslime“. Als emanzipatorisches Ideal zitiert sie später ausgerechnet Rousseau. Der aber sah in der Frau nur die Dienerin des Mannes – ohne volle Bürgerrechte.

Necla Kelek ist eine Art Konvertitin. Und wie viele Konvertitinnen zeigt sie Erbarmungslosigkeit im Urteil über ihre Herkunft. Deshalb neigt sie dazu, einem repressiven und diskriminierenden Umgang mit muslimischen Migranten das Wort zu reden, nach dem Motto: „Geschieht ihnen ganz recht!“ Dass der von ihr mitentwickelte Einbürgerungstest zum diskriminierenden „Muslim-Test“ verkam, hat die Autorin nicht gestört.

Ähnlich rabiat sind ihre politischen Ansätze in dem neuen Buch: „Wer als Migrant gekommen ist, muss Deutschland als seine ‚wahre Heimat‘ annehmen“, verfügt Kelek. Ihr Vorwurf, die deutschen Behörden hätten aus falscher Toleranz den Menschenrechtsverletzungen der Muslime zugesehen, ist in vielen Fällen berechtigt. Die zuständigen Stellen auf Versäumnisse hinzuweisen, reicht Kelek aber nicht. Neue Gesetze müssen her. Dass eine moderne Einstellung nicht per Gesetz verfügt werden kann, sondern ein Prozess sein muss, sollte sie das Beispiel Türkei eigentlich gelehrt haben. Keleks Verdienst ist dennoch, dass sie diesen Prozess mit der ihr eigenen Schonungslosigkeit vorantreibt.

Necla Kelek: „Die verlorenen Söhne. Plädoyer zur Befreiung des türkisch-muslimischen Mannes“. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2006, 208 Seiten, 18,90 €