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Archiv-Artikel

Gegen allen Alarmismus

Robert O. Paxton schreckt vor den Konsequenzen seiner eigenen Faschismustheorie zurück

VON MICHA BRUMLIK

Faschismustheorien hatten zuletzt keinen guten Ruf. Das lag vor allem daran, dass sie von einer heute nicht mehr existierenden moskauhörigen Linken als grobes Propagandainstrument zum Kampf gegen das „System“ missbraucht wurden. Statt wissenschaftlicher Erkenntnis zu dienen, wurden sie zu einem Schlagwort im Kalten Krieg degradiert und gerieten schließlich zwischen die Mahlsteine von ebenfalls weltanschaulich inspirierter Totalitarismustheorie hier und realsozialistischer Apologetik dort.

Diese Phase scheint sich mit dem Verschwinden der letzten Überreste des Kalten Krieges ihrem Ende zu gehen. Eine neue, unbefangenere Auseinandersetzung mit dem Thema wird möglich – auch und gerade im Sinn einer in Deutschland lange Zeit verpönten „Einordnung“ des Nationalsozialismus als eines besonders brutalen und radikalen Falles von „Faschismus“.

Nun hat der US-amerikanische Historiker Robert Paxton eine „Anatomie des Faschismus“ vorgelegt, die sich von älteren Versuchen zunächst abhebt. Sie tut dies einerseits, indem sie auf der Einheit des Phänomens beharrt, andererseits jedoch dessen Vielfarbigkeit und seine Prozessualität betont. Aus dieser Perspektive lässt sich auch gerade noch über das zum Kalauer verkommene Diktum Max Horkheimers diskutieren: „Wer aber vom Kapitalismus nicht sprechen will, soll vom Faschismus schweigen.“

Die gern skandierte Parole der 70er-Jahre, „Kapitalismus führt zum Faschismus, Kapitalismus muss weg!“, wird hingegen ihrer ganzen Einfalt und Dummheit überführt. Beweisen doch ihre Gläubigen nur, dass sie den Unterschied zwischen notwendigen und hinreichenden Bedingungen eines sozialen Phänomens nicht verstanden haben.

Indem Paxton dem Phänomen des Faschismus mit einem ländervergleichenden Phasenmodell nachgeht, kann er einer simplifizierenden ideengeschichtlichen, totalitarismustheoretischen Lesart Paroli bieten. Darüber hinaus gewichtet er differenziert die unterschiedlichen sozialen und ökonomischen Bedingungen, zu denen letztlich der Krieg als letzter Radikalisierungsfaktor gehört.

Paxton entzieht sich zunächst der Erwartung einer griffigen Definition, um auf die seinerzeitige Neuartigkeit des Faschismus hinzuweisen. Denn der entsteht vor allem als Reaktion auf liberale Systeme, die in aller Regel mehr oder minder enttäuschende sozialistische oder sozialdemokratische Regierungen bereits hinter sich haben. Zudem unterscheidet er sich von seinen konservativen oder liberalen Alliierten durch seine Mobilisierung der Massen, das Aufgebot charismatischer Führer – und seinen extremen weltanschaulichen Nationalismus.

Paxton betrachtet den Faschismus in fünf Phasen: In der ersten Phase seines Entstehens spielen Intellektuelle und ihre Programmschriften eine besondere Rolle, weshalb sich die Entstehungsphase für geistesgeschichtliche Erklärungen besonders eignet. Entscheidend ist jedoch die geistesgeschichtlich nicht mehr erklärbare zweite Phase der Verwurzelung faschistischer Bewegungen im politischen System, wozu es einer soziologischen, krisentheoretischen Betrachtung bedarf.

Doch: Nicht jede Verwurzelung im politischen System hat auch – drittens – zur politischen Machtübernahme geführt; das war nur in Deutschland und Italien der Fall. Das lässt sich vor allem durch eine Theorie des Versagens und der Irrtümer von Liberalismus und Konservativismus erklären.

Eine Erklärung der vierten Phase – des Faschismus an der Macht – lässt sich dann am überzeugendsten durch eine Theorie der Doppel- und Parallelherrschaft von Staat und Partei liefern, während die im Holocaust besonders deutlich gewordene fünfte Phase der Radikalisierung allemal des Krieges als eines eigenen dynamischen Faktors bedarf.

Paxton entfaltet seine Betrachtungen in einem ruhigen, ebenso anregenden und besonnenen Tonfall. Die vorzügliche Übersetzung von Dietmar Zimmer verstärkt wird diesen Eindruck noch und überzeugt durch eine so nur selten zu findende, umfassende Kenntnis der relevanten Literatur. Die annotierte Bibliografie, die der Studie als letztes Kapitel angehängt ist, verleiht dem Buch einen hohen Gebrauchswert. Wer es besitzt, Paxtons Überlegungen nachgeht und sich auf die von ihm verwendeten Quellen und Referenzliteratur einlässt, hat damit für ein sozialwissenschaftliches Studium beinahe ausgesorgt.

Indes: So sehr die „Anatomie des Faschismus“ gründlich informiert und so sehr sie abwägend auch aktuelle, vor allem europäische faschistische Bewegungen in ihren unterschiedlichen Phasen beschreiben kann – so sehr drückt sich der allem Alarmismus abgeneigte linksliberale Historiker vor der heute notwendigerweise zu beantwortenden Frage nach dem faschistischen Charakter des radikalen Islamismus. Paxton will diese Frage kurzerhand negativ beantworten, gehört doch zu seiner Definition des Faschismus, dass es vor ihm ein demokratisches und liberales System gegeben haben muss, auf das der Faschismus gegebenenfalls folgt.

Damit schreckt Paxton freilich vor den Konsequenzen seiner eigenen Definition zurück, die er auf den letzten Seiten verrät. Demnach ist Faschismus nämlich „eine Form des politischen Verhaltens, das gekennzeichnet ist durch eine obsessive Beschäftigung mit Niedergang, Demütigung oder Opferrolle einer Gemeinschaft und durch kompensatorische Kulte der Einheit, Stärke und Reinheit“. Dabei gebe „eine massenbasierte Partei von entschlossenen nationalistischen Aktivisten in unbequemer, aber effektiver Zusammenarbeit mit traditionellen Eliten demokratische Freiheiten auf“ und verfolge „mittels einer als erlösend verklärten Gewalt und ohne ethische oder gesetzliche Beschränkungen Ziele der inneren Säuberung und äußeren Expansion“.

Paxtons Buch erschien auf Englisch im Jahr 2004, vor den letzten iranischen Präsidentschaftswahlen. Nimmt man seine Definition zum Nennwert, so ist kein Zweifel möglich: Mit der Wahl von Ahmadinedschad und seinem Bündnis mit dem aus den Revolutionsgarden hervorgegangenen Militär befindet sich der Iran gemäß Paxtons Prozesstheorie in der vierten Phase: der Faschismus ist an der Macht.

Robert O. Paxton: „Anatomie des Faschismus“. Aus dem Amerikanischen von Dietmar Zimmer. Deutsche Verlagsanstalt, München 2006, 448 Seiten, 24,90 €