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Archiv-Artikel

IM KAMPF GEGEN HOMOPHOBIE FÜHREN VERZWEIFLUNG UND RESIGNATION NICHT WEITER – WUT SCHON EHER Angst. Scham. Ohnmacht

MARTIN REICHERT

Seitdem in Russland von Staats wegen die Treibjagd auf Homosexuelle eröffnet ist, kursieren im Netz Videos, in denen zu sehen ist, wie junge Schwule von Rechtsradikalen gefoltert und gedemütigt werden – und ich bin kaum in der Lage, mir diese Bilder anzuschauen. Nach all den Jahren, in denen ich mich mit dem Thema Homophobie auseinandergesetzt habe, nach all den Geschichten, die ich über schwierige Lebensumstände von Schwulen und Lesben geschrieben habe, fühle ich ich mich ohnmächtiger denn je.

Vielleicht liegt es daran, dass ich vor gut vier Jahren in Moskau war, um eine Reportage über Homosexuelle zu schreiben – und ich damals den Eindruck gewonnen hatte, dass es in Russland eigentlich nur besser werden könne und nicht schlechter. Vielleicht liegt es aber auch daran, dass ich den Ausdruck in den Augen der jungen gequälten Männer in den Videos nicht ertrage. Angst und Scham. Ohnmacht.

Sicher. Man könnte sich auf die Plattform der Rationalität zurückziehen und kühl konstatieren, dass sich die psychologischen Zusammenhänge der Homophobie anhand dieses Videomaterials sehr gut darstellen lassen: junge Männer, die anscheinend gemeinsam in eine Flasche urinieren, um diese danach lustvoll über einem anderen jungen Mann ausleeren. Junge Männer, die Jünglingen mit gewaltsamem Analverkehr drohen. Und so weiter.

Und sicher. Wenn sich in Italien ein Vierzehnjähriger aus dem zehnten Stockwerk stürzt, weil er das homophobe Mobbing in der Schule nicht mehr ausgehalten hat – so wie am letzten Wochenende –, dann kann man sich kühlen Kopfes zum hunderttausendsten Mal die Statistik vor Augen halten, dass das Suizidrisiko bei homosexuellen Jugendlichen vier- bis siebenmal so hoch ist wie bei Heterosexuellen, und weiter darauf hoffen, dass schulische Aufklärung irgendwann dafür sorgen wird, das alles besser wird.

Aber müsste man sich als Erwachsener nicht langsam damit abgefunden haben, dass sich bestimmte Dinge nie ändern? Müsste man sich nicht darüber klar werden, dass die Homophobie mit jeder Generation neu erfunden wird und junge Homos es immer und ewig schwerer haben werden als andere? Müsste man nicht einfach mal auf die LeserbriefschreiberInnen hören, die einem ganz ehrlich sagen, dass schwullesbische Themen unwichtig sind und überhaupt „Papierverschwendung“?

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Nein, müsste man nicht. Man müsste darauf vertrauen, dass es doch einen gesellschaftlichen Fortschritt gibt. Darauf vertrauen, dass es die Aufgabe der Mehrheit ist, für den Schutz der Minderheiten zu sorgen. Man müsste sich sicher sein, dass Putin diese Schlacht verlieren wird, weil nicht nur Schwule und Lesben selbst gegen staatliche Verfolgung in Russland protestieren werden, sondern auch die internationale Gemeinschaft – Stichwort Olympische Spiele in Sotschi.

Erwachsen ist es wohl, auch Bilder auszuhalten, die einen an die eigenen Ängste und Traumatisierungen der Jugendzeit erinnern. Und zu erkennen, das Verzweiflung und Resignation noch nie weiterführend waren. Wut schon eher.