: Die Konfusion verstehen
SCHLAGLOCH VON SARAH ELTANTAWI Die Mehrheit der Ägypter wollte den Putsch, der also kein wirklicher ist
■ ist Assistenzprofessorin für Vergleichende Religionswissenschaften am Evergreen State College. Ab Oktober wird sie ihre Forschung beim Berliner Forum „Transregionale Studien“ fortsetzen.
Wir befinden uns in Woche sechs nach der neuen Revolution beziehungsweise dem Staatsstreich in Ägypten. Und die Geschichte, die sich jetzt dazu alle erzählen, geht so: Im Sommer 2012 gewannen die Islamisten die ersten demokratischen Wahlen des Landes. Nach nur einem Jahr an der Regierung wurden sie vom „tiefen Staat“, der sich mit den Medien verbündet hatte, schachmatt gesetzt und schließlich per Staatsstreich vom Militär gestürzt – da es auf die Unterstützung der Liberalen zählen konnte. Die von den Generälen eingesetzte Übergangsregierung, so heißt es weiter, katapultiere Ägypten direkt in die Zeiten Mubaraks zurück.
Loyalität als Falle
Diese Erzählung ist so falsch wie deprimierend weit verbreitet. Im besten Fall beschreibt sie eine Art Skelett, denn es fehlt das Fleisch. Passiert ist nämlich folgendes: Im Laufe von zwölf Monaten haben Mursi und die Muslimbrüder in jedem Bereich der ägyptischen Gesellschaft die Unterstützung verloren – am Schluss waren nur noch sie selbst als Bündnispartner übrig. Der Regierung Mursi fehlte die politische Kapazität, die Weitsicht und der Wille, Machtpositionen mit qualifizierten Leuten zu besetzen. Stattdessen war Loyalität ihr einziges Kriterium.
Die technokratische Inkompetenz der Mursi-Regierung – und mehr noch die offensichtlich fehlende Aufmerksamkeit für die wichtigsten strukturellen Probleme des Landes – haben sie immer weiter geschwächt, bis sie nicht mehr in der Lage war, dem „tiefen Staat“ irgendetwas entgegenzusetzen. Es kursieren viele glaubwürdige Berichte über Sabotageakte gegen das Mursi-Regime, inklusive der Unterbrechung der Strom- und Wasserversorgung. Solche Attacken dürfen in der postrevolutionären Phase aber nicht überraschen. Glücklicherweise gab es am 25. Januar 2011 ja keine Guillotinen, das Ancien Régime existiert also weiter. Das aber nur nebenbei.
Was wirklich zählt, ist, dass nun Leute auf Positionen gesetzt werden, die wenigstens einigermaßen mit den an sie herangetragenen Herausforderungen klarkommen. Zugegeben, in der gegenwärtigen wirtschaftlichen Situation erfordert das ein nahezu geniales politisches und taktisches Talent, nichtsdestoweniger hat die Mursi-Regierung komplett versagt – und vorrangig deshalb die Macht verloren.
Womit sich die nächste Sollbruchstelle auftut bei der Analyse der jüngsten Ereignisse. Mursis Sympathisanten argumentieren, keine Regierung wäre in der Lage gewesen, die Armut in so kurzer Zeit zu bekämpfen, und finden, die Ägypter hätten mehr Geduld aufbringen müssen. Den meisten leuchtet dieses Argument ein. Und hätten sie den Eindruck gehabt, dass sich das Land zumindest im Ansatz in die richtige Richtung bewegte, dann wären die Massen nicht so schnell wieder auf die Straße gegangen. Das war aber nicht der Fall, insofern eine Mehrheit fand, der Rückschritt zum Militär sei das kleinere Übel.
Soldaten sind „unsere Cousins“
Das Mursi-Regime hat den „tiefen Staat“ ja mitnichten bekämpft, sondern im Gegenteil umarmt. Insofern hat, so glaube ich, die kollektive Unzufriedenheit am Ende den Ausschlag gegeben, nicht das Militär. Denn Mursi war nicht Präsident der Ägypter, sondern nur der Muslimbrüder, mehr wollte er offenbar auch nicht. Was sich zum Beispiel manifestierte, wenn er sich massiv um Bündnisse mit Splittergruppen der Muslimbrüder bemühte und Reden in Stadien hielt, die ausschließlich von seiner Anhängerschaft gefüllt wurden.
Ist die wirtschaftliche Situation schlechter als je zuvor, die Zukunft eines Landes vollkommen ungewiss und hat die Regierungspartei das Vertrauen der breiten Öffentlichkeit verloren, dann sind Aufstände vorprogrammiert. Die ägyptische Besonderheit ist nur, dass die Mehrheit der Protestierenden eine Intervention der Armee wollte. Aber auch das folgt der sozialen Logik des Landes, denn Soldaten sind hier Teil des Sozialgefüges: „Sie sind unsere Söhne und Cousins“ – das ist eine stehende Redewendung. Und die meisten meinen ja auch, dass das Militär sich bei den ersten Aufständen 2011 ganz gut benommen hat.
Das nun finden Menschenrechtsorganisationen keineswegs. Sie haben die Verbrechen der ScaF, inklusive der sogenannten Jungfrauentests, dokumentiert und auch das Massaker an den ägyptischen Kopten 2011. Doch am Ende hat sich die Bevölkerung gegen die Muslimbrüder und für die Armee entschieden. Womit wir an dem Punkt angelangt wären, wo die Mursi-Anhänger generell zweierlei nicht zur Kenntnis nehmen wollen: 1. das Ausmaß der Proteste gegen Mursi und 2. dass es eine massive Kritik in Ägypten an den Islamisten gibt.
Eine verführerische Möglichkeit, diese Analyse zu übersehen, bietet der Mythos, der die Ägypter in Islamisten (oder wie die Mursi-Anhänger lieber sagen, die „Antistaatsstreichler“ oder „Pro-Legitimität-Aktivisten“) und „Liberale“ teilt. Gemäß dieser Lektüre haben die Liberalen ein Bündnis mit dem Militär geformt, um die Islamisten aus dem Amt zu jagen. Weil sie islamfeindlich sind, kurzsichtig und ungeduldig und die Muslimbrüder ohnehin nie leiden konnten.
Wo sind denn die „Liberalen“?
Bislang konnte mir noch niemand eine adäquate Definition für „Liberale“ liefern. Doch egal, was man im Detail darunter versteht, in Ägypten gibt es ganz sicher zu wenig „Liberale“. Ich kann persönlich bestätigen, dass die Mehrheit der Leute, die auf dem Tahrirplatz (wo ich zwölf Stunden lang Interviews geführt habe) für General Sisi protestiert haben, arm waren oder zur (unteren) Mittelschicht gehörten, und fast immer handelte es sich um gläubige Muslime. Also um ganz normale Leute, die sich aufgrund der wirtschaftlichen Situation in einer verzweifelten bis schwierigen Lage befinden und die es persönlich verletzt, wenn Ägypten und der Islam – beides zentrale Identitätsmarker – instrumentalisiert werden.
Doch ich fürchte, dass viele der Mursi-Anhänger tatsächlich glauben, sie würden für den Islam kämpfen. Das ist auch das, was man ihnen sagt. Doch für alle, die denken, es ginge um den Islam – und es tut mir leid, sollte ich jetzt die Gefühle von jemanden verletzen: Es ist nun einmal sonnenklar, dass wir nicht über den Islam sprechen, wenn von den Muslimbrüder die Rede ist. Letztere haben den Islam missbraucht, und zwar für eine sehr engstirnige politische Agenda. Gleichzeitig: die aktuelle Situation ist eine hochkomplizierte, aber zu glauben, es sei schlimmer als unter Mubarak, wäre ein Fehler.
Das Beste also, was man im Moment machen kann, ist also zu akzeptieren, was passiert ist, und weiter nach einem nationalen Konsens zu suchen. Das bedeutet, dass die Muslimbrüder und ihre Anhänger ihre politische Niederlage anerkennen und aufhören müssen, den Streit zu einem Bürgerkrieg zu eskalieren. Das gilt natürlich auch für das Militär.