Erwerbslose bilden sich ein Urteil

Von den Straßen sind die Hartz-IV-Demonstrationen schon lange verschwunden. Um den Protest inhaltlich zu vertiefen, luden Arbeitsloseninitiativen zum „Tribunal gegen Armut und Elend“. Die Bundesrepublik Deutschland als Angeklagte erschien nicht

Der Vorschlag, Geld für die Altersvorsorge in Dubai anzulegen, erntete Widerspruch

„So wollt ihr uns sehen, uns junge alte Frauen. Unauffällig, bescheiden, an Armut gewöhnt.“ Im grauen Mantel blickt die Frau verschämt in die Runde. Doch schon Sekunden später hat sie den Mantel gegen eine trendige Jacke ausgetauscht. „So seht ihr uns auch – dem Jugendlichkeitswahn hinterherhechelnd“, wirft die Frau in die Runde, bevor sie abermals die Rolle wechselt: „Da wir weder Zukunftsforscher noch Wirtschaftsinstitute als Lobby hinter uns haben, klagen wir die Regierung und die ignoranten Teile der Republik an, die für die Vermehrung unserer Armut verantwortlich sind.“

Mit dem „Kurzen Akt in 3 Kostümen“ eröffnete Eva Willig am Donnerstagabend im Rathaus Neukölln das von der Erwerbsloseninitiative Neukölln (Erwin) organisierte „Tribunal gegen Armut und Elend“. Angeklagt war die Bundesrepublik Deutschland wegen der Verletzung der Verfassung sowie der EU- und UN-Menschenrechtskonvention. Wie bei einem richtigen Prozess wurden ZeugInnen und Sachverständige geladen. Der Erwerbslosenaktivist Rainer Urban ging in der Rolle des Richters sichtlich auf. Bei der Mitteilung, dass die Angeklagte keine Vertreter geschickt und auf die Aufforderung zur Stellungnahme nicht einmal reagiert habe, bekam seine Stimme einen tadelnden Unterton.

Im voll besetzten Rathaussaal war ein Querschnitt der ErwerbslosenaktivistInnen versammelt, die im Jahr 2004 gegen Hartz IV auf die Straße gegangen waren. Für die meisten von ihnen war es sicher nichts Neues, was die Sachverständigen und ZeugInnen über wachsende Armut in Deutschland berichteten. Im Mittelpunkt stand das Thema Altersarmut. Hans Klingbeil von der Deutschen Rentenversicherung hatte hierzu keine optimistischen Prognosen anzubieten. Für seinen halb scherzhaft gemeinten Tipp, das Geld für die Alterssicherung doch in Dubai anzulegen, erntete er allerdings Widerspruch aus dem Publikum. Man wolle sich nicht individuell durchwursteln, sondern Widerstandsperspektiven entwickeln, hieß es. Deswegen hatte man sich auch mit Initiativen in fünf anderen Städten vernetzt, die ebenfalls ein Tribunal organisieren. Aus Erfurt, wo das Tribunal am vergangenen Samstag getagt hatte, überbrachte ein Vertreter der „Initiative gegen Billiglohn“ neben solidarischen Grüßen auch einen Preis. Der ging allerdings an die in Berlin ansässige Securityfirma Gegenbauer, die als unsoziales Unternehmen mit der Goldenen Nase ausgezeichnet wurde. Sie habe Gewerkschaftler entlassen und zahle extrem niedrige Löhne, hieß es in der Laudatio. Die Firma ignorierte die Preisverleihung erwartungsgemäß.

Nicht ignoriert wurden die Betroffenen von den SenatorInnen der Linkspartei. Wirtschaftssenator Harald Wolf und Sozialsenatorin Heidi Knake-Werner hatten Vertreterinnen geschickt, die sich die Sorgen und Ängste der Erwerbslosen anhörten. Dagegen sorgte das Fehlen von Neuköllner BezirkspolitikerInnen bei den OrganisatorInnen für Unmut. „Wir müssen doch wieder auf die Straße gehen“, hörte man öfter. Dazu wird es in Neukölln bald Gelegenheit geben.

Am 11. April plant die Freie ArbeiterInnen Union (FAU) eine Kundgebung vor der Neuköllner Arbeitsagentur. Für den 28. April ist ein Aktionstag gegen Hartz IV und Zwangsräumungen mit einer Kundgebung vor dem Neuköllner Rathaus in Vorbereitung. Und am 1. Mai zieht die erste Berliner Euro-Mayday-Parade von Kreuzberg nach Neukölln. Dieses Protestevent hat seine Wurzeln in Italien und Spanien und wurde dort von den „Prekarisierten“ organisiert – Menschen mit unsicheren Lebens- und Beschäftigungsverhältnissen, wie sie auch am Donnerstag auf dem Tribunal zu finden waren. Schade, dass die OrganisatorInnen diese aktuellen Debatten nicht schon im Titel der Veranstaltung aufgegriffen hatten.

PETER NOWAK