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Archiv-Artikel

Neues Recht, alte Rollen

ERINNERUNG Die Gräuel des Kosovo-Kriegs haben die Menschen im Westen des Kosovos geprägt. Der Alltag vieler Frauen hat sich verändert, aber gegen das konservative Rollenbild kommen sie nur schwer an. Schuld ist auch das traditionelle Recht, der Kanun

In Dörfern wie diesem gilt das Gewohnheitsrecht, das Männer bevorzugt

VON FELIX EHRING

Vor zehn Minuten erst ist Sanije Rexha ins Auto gestiegen, um nach Dobrosh zu fahren. Nun greift sie zum dritten Mal nach den Zigaretten. Sie dreht nervös den Kopf, macht Witze und kaum Pausen, wenn sie mit ihrer Mitfahrerin redet. Fehmije Luzha von der Frauen-Hilfsorganisation Medica Gjakova begleitet Rexha, 46, die Haare kurz, das Gesicht blass, zurück in das Dorf, in dem sie vor dem Kosovo-Krieg gewohnt hat. Die Erinnerungen an ihr früheres Leben und an die Familie ihres Mannes belasten sie noch immer.

Heute wird sie in Dobrosh andere Frauen treffen, die ihr Schicksal teilen: Sanije Rexha hat im Krieg ihren Mann verloren. Er kämpfte für die UCK, die selbst ernannte Befreiungsarmee des Kosovos. „Am 25. April 1999 um zwei Uhr nachts kam ein Mann zurück von dort, wo gekämpft wurde“, sagt Rexha. „Er berichtete, dass viele Kämpfer getötet worden seien. Ich fühlte, dass mein Mann tot war, aber ich hoffte noch.“ Einige Stunden später kam ein Lkw mit einem Leichnam auf der Ladefläche. „Ich habe ihn sofort erkannt, an seiner Jacke.“

Nach dem Krieg blieb Rexha bei der Familie ihres Mannes. Schon bei der Heirat war sie mit ins Haus gezogen. So ist das üblich im Kosovo, vor allem auf dem Land. Wird der Platz knapp, baut die Familie ein zweites Haus nebenan. Die Männer arbeiten, die Frauen bleiben zu Hause. In Dörfern wie Dobrosh gilt das traditionelle albanische Gewohnheitsrecht, der Kanun, der viel Raum für Interpretation lässt und Männer bevorzugt. Sie sind es, die in der Familie Entscheidungen treffen.

Sanije Rexha war als Schwiegertochter nun eine finanzielle Last, ein eigenes Einkommen hatte sie nicht, und damit keine Freiheit. Vom Erbe ihres Mannes erhielt sie nichts, es wurde nach den Regeln des Kanun aufgeteilt, also unter den männlichen Verwandten. Es gab viel Streit, bis sie die Familie verließ und wieder bei ihren eigenen Eltern einzog.

„Ehefrauen sind nicht versichert, haben meist keinen Job. Die Familie ist der Halt“, sagt Fehmije Luzha von Medica Gjakova auf dem Weg nach Dobrosh. Das Dorf liegt eine halbstündige Fahrt von der Regionalstadt Gjakova entfernt. Eine ländliche Gegend mit Obstbäumen und Äckern. Weit verstreut über eine Ebene stehen die Häuser hier, umgeben von Eisentoren und hohen Mauern, die keine Blicke auf die Grundstücke zulassen. Die Region ist stark albanisch geprägt und war eine Hochburg der UCK, die Ende der Neunzigerjahre verstärkt Serben angriff und tötete, vor allem Mitarbeiter von Behörden und Polizei.

Als Serbien mit Gewalt reagierte, galt das als Beweis für die Brutalität der „Besatzer“. Ende März 1999 begann die Nato mit Luftangriffen gegen Serbien. Für die Menschen in Dobrosh und den umliegenden Dörfern veränderte das die Situation enorm: Jetzt gingen die serbischen Kräfte – Armee, Polizei und die gefürchteten Milizen – gegen die Zivilbevölkerung vor.

Im Wohnzimmer eines bescheidenen Hauses mit hellen Wänden und schweren, dunklen Vorhängen haben sich zwölf Frauen versammelt, die älteren unter ihnen mit weißen Kopftüchern und in langen Röcken, die jüngeren mit offenen Haaren und in Hosen. Sechs von ihnen haben im Krieg ihren Ehemann verloren, auch die 65-jährige Gastgeberin Xheme Isuf Selmamy. Die Frauen trinken Limonade und essen Salzcracker, sie unterhalten sich erst lebhaft. Dann fängt Frau Selmamy an, vom Krieg zu sprechen.

„Die Serben kamen am 27. April gegen sechs Uhr hier an und warfen uns aus den Häusern.“ Ihr Mann und die zwei ältesten Söhne seien mit anderen Männern verschleppt – und dann erschossen worden. Die Frauen in Dobrosh erzählen, dass sie von den serbischen Milizen geschlagen und ausgeraubt wurden. Auch ihre Häuser hätten sie verwüstet und angezündet. „Geht doch nach Albanien!“, hätten ihnen die Serben zugerufen. In der Region seien Frauen vergewaltigt worden. „Aber nicht in unserem Dorf“, sagt eine Frau. Die anderen nicken stumm. Später wird Fehmije Luzha sagen, dass das nicht stimmt: „Vergewaltigungen sind auch in Dobrosh passiert. Aber keine Frau spricht offen darüber. Das ist immer noch ein absolutes Tabu.“

Die Frauen flohen mit ihren Kindern und den Alten Richtung Albanien, zu Fuß über die Berge. 800.000 Menschen waren im Frühjahr 1999 im Kosovo auf der Flucht. Was in Dobrosh im Einzelnen geschah, ist nicht mehr zu prüfen. Wer kämpfte in der UCK, wer war Zivilist und starb, nur weil die Serben ihn verdächtigten? Was taten die Ehemänner, die ihre Familien verließen und sich über Monate in den Wäldern vor den Serben versteckten? Wie viele in Dobrosh umkamen, kann keine der Frauen sagen. Die Bundeszentrale für politische Bildung schätzt, dass 10.000 Kosovo-Albaner getötet wurden.

„Über die vielen toten Männer wurde bei uns im Dorf geschwiegen“, sagt Frau Selmamy. „Erst dank der Hilfe von Fehmije konnte ich über meinen Schmerz sprechen.“ Fehmije Luzha ließ sich nach Kriegsende zur psychologischen Beraterin ausbilden und fuhr nach Dobrosh, um den Frauen beizustehen. Sie erzählte ihnen von eigenen Kriegserfahrungen, wochenlang hatte sie sich mit ihrer Familie in einer Wohnung im besetzten Gjakova versteckt. „So ziemlich jeder in der Gegend hat im Krieg Angehörige verloren“, sagt sie. Auf einem Regal im Wohnzimmer der Selmamys erinnern verblichene Porträtfotos an den Ehemann und die zwei Söhne. Frau Selmamy ist nur der jüngste Sohn geblieben, der mit seiner Frau und zwei Töchtern im Haus lebt.

Der Krieg hat das Leben in Dobrosh verändert. „Vor dem Krieg blieben die Frauen hinter den hohen Mauern der Grundstücke, waren kaum sichtbar“, sagt Fehmije Luzha. Sie ermutigte die Frauen, sich zu unterstützen und auszutauschen. Sie begannen, sich um Hof und Landwirtschaft zu kümmern. Sie bauen nun Weizen, Zwiebeln, Paprika und Spinat an, machen Heu und Käse, den sie in einem kleinen Laden in Gjakova verkaufen. „Die Männer verfolgten das mit Argwohn“, sagt Luzha. Sanije Rexha ergänzt rauchend: „Die dachten, wir amüsieren uns nur.“ Sie schüttelt den Kopf.

Rexha bekommt nun eine Rente, die ihr als Witwe eines UCK-Kämpfers zusteht. Sie hat ein langwieriges gerichtliches Verfahren hinter sich, ihr fehlten die Dokumente, um ihre Ehe zu bezeugen. Medica Gjakova half ihr mit einem Rechtsbeistand, heute hat die Organisation dafür kein Geld mehr.

„Die Gesetze im Kosovo sind enorm fortschrittlich, von EU-Experten ausgearbeitet“, sagt Fehmije Luzha. Das Problem sei die Anwendung. Viele Frauen hätten keine Möglichkeit, sich ihr Recht zu verschaffen. Sie stünden einfach vor dem Nichts, wenn sie sich scheiden ließen oder bei der Familie ihres verstorbenen Mannes ausziehen wollten. „Manche Familien verschieben das Geld so untereinander, dass sie am Ende sagen können: ‚Sorry, wir haben nichts‘ “, sagt Luzha.

„Die Männer bestimmen einfach alles“, ruft eine Frau in die Runde. Andere nicken und lachen, während Frau Selmamy selbst gemachten Fetakäse im buttertriefenden Blätterteigmantel auftischt. Die Frauen von Dobrosh schreiben die Ungerechtigkeit dem Kanun zu, dem sie nichts Gutes abgewinnen können. Nur für ungebildete Männer sei das patriarchalische Recht hilfreich.

„Unsere Generation ist so gut wie verloren, aber die folgende nicht“, sagt Sanije Rexha. „Wenn wir nur mehr Geld hätten, um unseren Kindern eine ordentliche Ausbildung zu finanzieren.“ Vielen Witwen fehle das. Rexha bezahlt mit ihrer Kriegswitwenrente eine kleine Wohnung in einem Hochhaus am Rand von Gjakova. Dort lebt sie mit einer Tochter und einem Sohn, 17 und 15 Jahre alt. Wenn sie von ihrem Mann spricht, dem UCK-Kämpfer, klingt sie stolz.