: Märchenhafte Organverteilung
ORGANSKANDAL Der angeklagte Transplantationschirurg wird rechtlich schwer zu belangen sein, sagt der Strafrechtler Bijan Fateh-Moghadam
■ 43, ist Strafrechtswissenschaftler am Exzellenzcluster Religion und Politik der Universität Münster. Er hat einen Lehrauftrag für Medizinstrafrecht und Rechtssoziologie.
INTERVIEW HEIKE HAARHOFF
Am Montag beginnt vor dem Landgericht Göttingen die strafrechtliche Aufarbeitung eines der größten deutschen Medizinskandale: An vier Transplantationskliniken sollen Ärzte zwischen 2007 und 2012 Patientendaten verfälscht haben, um die Vergabe lebensrettender, aber sehr knapper Spenderlebern zu beeinflussen. Die Muster der Manipulationen ähneln sich, egal, ob an den Universitätskliniken Göttingen, Regensburg, München oder Leipzig: Mal wurden Laborwerte vertauscht, verändert oder falsch an die zentrale Organvergabestelle Eurotransplant übermittelt, mal Dialysen angegeben, die tatsächlich gar nicht stattfanden. Stets ging es darum, die eigenen Patienten kränker erscheinen zu lassen, als sie in Wirklichkeit waren, und ihre Chancen auf eine Spenderleber zu erhöhen – zu Lasten anderer, bedürftigerer Patienten.
Vor dem Landgericht Göttingen muss sich nun als erster Mediziner ein 46-jähriger Transplantationschirurg aus Göttingen verantworten. Die Anklage wirft ihm versuchten Totschlag in elf Fällen sowie Körperverletzung mit Todesfolge in drei Fällen vor (Az 6 Ks 4/13). Er soll bei der Meldung seiner Patienten an Eurotransplant bewusst falsche Angaben gemacht haben. Weil er um den Organmangel gewusst habe, habe er zumindest billigend in Kauf genommen, dass deswegen andere Patienten möglicherweise starben. Vorwürfe der Bestechlichkeit und des Organhandels sieht die Staatsanwaltschaft dagegen nicht bestätigt. Der Mann sitzt seit Januar 2013 in Untersuchungshaft. Das Gericht unter Vorsitz des Richters Ralf Günther hat für den Prozess 42 Verhandlungstage angesetzt. Im Falle einer Verurteilung drohen dem Mediziner eine Freiheitsstrafe nicht unter drei Jahren sowie ein Berufsverbot. Aktuell wird daneben gegen mehrere Ärzte in Regensburg, München und Leipzig ermittelt – bislang jedoch ohne Hinweise darauf, dass auch hier in Bälde mit Anklagen zu rechnen ist.
taz: Herr Fateh-Moghadam, klar ist: Kein Arzt konnte solche Mauscheleien allein, also ohne Helfer und Mitwisser, bewerkstelligen. Angeklagt vor dem Landgericht Göttingen ist jedoch nur ein einzelner Arzt, der ehemalige Leiter der Transplantationschirurgie aus Göttingen – wegen versuchten Totschlags. Müssen die anderen Staatsanwälte zum Jagen getragen werden?
Bijan Fateh-Moghadam: Dass an einem Universitätsklinikum strafrechtliche Ermittlungen zu einer Anklage führen und an einem anderen nicht, kann sowohl mit Tatfragen als auch mit Rechtsfragen zusammen hängen. Für die Rechtswissenschaft interessant wird das Verfahren dadurch, dass die Staatsanwaltschaften sich offenbar nicht einig sind, ob die Manipulationshandlungen überhaupt strafbar sind.
Wie das? Das Strafgesetzbuch ist doch bundesweit gültig.
Die Strafbarkeit von Verstößen gegen die Regeln der Organverteilung ist in der Strafrechtswissenschaft weitgehend ungeklärt. Es geht nicht um einen ganz normalen Fall der Tötung eines Menschen, sondern die eigenmächtige Umverteilung von Lebenschancen in einem äußerst komplexen Verteilungssystem. Aus Sicht der Patienten auf der Warteliste stellt sich die Manipulation dabei allenfalls als eine Erhöhung des ohnehin bestehenden Risikos dar, nicht mehr rechtzeitig ein Organ zu erhalten.
Was heißt das strafrechtlich?
Das Strafrecht tut sich schwer mit dieser Konstellation, weil das Transplantationsgesetz zum Tatzeitpunkt keinen einschlägigen Straftatbestand enthielt. Dies ist der Grund, weshalb die Staatsanwaltschaft schwere Geschütze aufgefahren hat und den Tatbestand des Totschlags in den Mittelpunkt der Anklage gestellt hat. Aufgrund der Komplexität des Organvergabeverfahrens durch Eurotransplant ist es aber offenbar in keinem einzigen Fall gelungen, nachzuweisen, dass ein auf der Warteliste verstorbener Patient ohne die Manipulationen länger gelebt hätte. Doch selbst bei einem versuchten Totschlag müsste dem Täter nachgewiesen werden, dass er den Todeserfolg herbeiführen wollte. Und dass er nicht lediglich eine diffuse Risikoerhöhung in Kauf genommen hat.
Sie gehen davon aus, dass der Arzt – ungeachtet des sonstigen Wahrheitsgehalts der Tatvorwürfe – aufgrund dieser Strafbarkeitslücke gar nicht verurteilt werden kann?
Es handelt sich um eine ungeklärte Rechtsfrage, die voraussichtlich noch den Bundesgerichtshof beschäftigen wird. Eine weitere Hürde für die strafrechtliche Ahndung besteht jedoch darin, dass keine hinreichend bestimmte gesetzliche Regelung der Organverteilung existiert, an deren Verletzung man legitimerweise einen strafrechtlichen Vorwurf knüpfen könnte.
Der Gesetzgeber hat die Formulierung der Richtlinien für die Organvergabe an die Bundesärztekammer delegiert. Wer dagegen verstößt, muss mit Sanktionen rechnen?
Genau hier liegt das Problem. Richtlinien der Bundesärztekammer können schon deshalb nicht unmittelbar strafrechtlich abgesichert werden, weil die Bundesärztekammer keine strafrechtliche Normsetzungskompetenz besitzt. Soweit die Bundesärztekammer in ihren Richtlinien nicht nur den Stand der medizinischen Wissenschaft festlegt, sondern normative Regeln für die Organverteilung setzt, ist das zudem durch das Transplantationsgesetz nicht gedeckt. Die Politik ignoriert diese seit nunmehr 15 Jahren immer wieder formulierte Kritik leider beharrlich und verkauft der Öffentlichkeit stattdessen das Märchen, die Organverteilung erfolge in Deutschland nach medizinischen Kriterien. Gerade das Beispiel der Vergabe von Spenderlebern zeigt aber doch, dass die Frage, ob es primär auf Dringlichkeit oder Erfolgsaussicht ankommen soll, eine normative Frage ist, die die Medizin weder beantworten kann noch darf.
Dem Arzt wird auch vorgeworfen, er habe Alkoholiker auf die Warteliste gesetzt, obwohl diese noch gar nicht die vorgeschriebenen sechs Monate trocken waren. Ist das kein medizinischer Regelverstoß?
Bei dieser Frist handelt es sich um eine als medizinische Kontraindikation getarnte rechtswidrige Diskriminierung von alkoholkranken Patienten durch die Bundesärztekammer. Es steht wissenschaftlich außer Zweifel, dass Patienten mit alkoholinduzierter Leberzirrhose unabhängig von der Einhaltung fixer Abstinenzfristen erfolgreich transplantiert werden können. Diese Patienten haben einen Rechtsanspruch auf Zugang zur Warteliste, und wenn dieser nur mittels Falschangaben durchgesetzt werden kann, können sie sich auf ein Recht zur Lüge berufen.
Der Angeklagte – ein verkannter Held?
Der Arzt mag vieles falsch gemacht haben. Der Umstand, dass er sich über die Regeln der Bundesärztekammer zur Alkoholabstinenz hinweggesetzt hat, gehört nicht dazu.
Die Empörung über den Organ-Skandal war riesig. Wenn jetzt nicht bestraft werden kann, dann ist das – Stichwort Vertrauen in das Transplantationssystem – ein fatales Signal.
Ich fände es eher bedenklich, wenn durch die Konzentration auf die Verfolgung angeblicher oder tatsächlicher schwarzer Schafe in der Transplantationsmedizin von der grundsätzlichen Fehlannahme abgelenkt wird, die Organverteilung sei eine Selbstverwaltungsaufgabe der Medizin. Auch der im Juni vom Bundestag beschlossene neue Straftatbestand, der unrichtige Angaben bei der Meldung zur Warteliste erfassen soll, ist nur eine kriminalpolitische Verlegenheitslösung. Erforderlich ist eine große Reform, die das gesetzliche System der Organverteilung auf eine verfassungsmäßige Grundlage stellt.