: Illusion Gleichheit
Im Atomstreit fordert der Iran Gleichbehandlung mit den anderen (Atom-)Staaten ein. Aber: Im Konfliktfall steht das Prinzip der Staatengleichheit nur auf dem Papier
Die islamische Welt fühlt sich herabgesetzt. Sie muss einen Minderwertigkeitskomplex kompensieren. „Wir brauchen euch nicht“, sagt der iranische Präsident zu den westlichen Ländern. „Aber ihr braucht den Iran!“ Auch die Menschen im Iran fühlen sich gedemütigt. Wenn man dort jemand fragt, ob er oder sie mit der Atompolitik ihres Präsidenten einverstanden ist, so ist die Antwort ein klares Ja – ganz unabhängig davon, wie im Übrigen die Meinung über diesen Mann ist. Bei der Begründung schimmert kein religiöser Fanatismus durch: In der Völkergemeinschaft gelte das Prinzip der Gleichheit. Ihr Land werde zu Unrecht diskriminiert. Werfen wir einen genaueren Blick auf das Prinzip der Staatengleichheit.
Tatsächlich garantiert das Völkerrecht den Nationen (Art. 2 der UN-Charta) „souveräne Gleichheit“. Damit ist ganz offensichtlich kein tatsächlicher Zustand beschrieben. Die Gleichheit der Nationen ist eine kontrafaktische Konstruktion, die den Unterschied zwischen dem Inselstaat Tuvalu, der mit 11.000 Einwohnern im Pazifik liegt, und den Vereinigten Staaten, vor denen die Welt zittert, überwölbt.
Dennoch hat das Prinzip seinen Wert. Auch die Gleichheit der Menschen im Nationalstaat macht Sinn, obwohl sie eine kontrafaktische Konstruktion ist. Ihre tatsächliche Ungleichheit liegt zwar auf der Hand, denn diese Menschen sind groß oder klein, gut oder böse, stark oder schwach. Dieses Machtgefälle wird aber dadurch ausgeglichen, dass sie nicht im Naturzustand, sondern in einem Staat leben, dessen Gesetz den Starken und Bösen verbietet, ihre physische Überlegenheit einzusetzen.
Der Nationalstaat hat die Individuen entwaffnet und sich das Monopol auf legitime Gewaltanwendung reserviert. Er hat eine Exekutive aufgebaut, ein wirksames Drohsystem: Nur die Polizei darf schießen. Auf dieser Grundlage sind alle gleich: Einerseits ist allen die Gewaltanwendung verboten, andererseits werden alle davor beschützt, ihr zum Opfer zu fallen.
Genauso ist die Lage unter den Völkern, könnte man meinen. Seitdem das moderne Völkerrecht gilt, ist ihnen die Gewaltanwendung gesetzlich verboten. Die UN-Charta untersagt den Völkern einerseits den Angriffskrieg und verspricht ihnen andererseits Schutz vor Bedrohungen. Keineswegs gelten für die Bösen, Undemokratischen besondere Regeln. Auch die Schurkenstaaten sind eingeschlossen.
Insofern könnten sich die Völker in der Weltgemeinschaft eigentlich genauso wie die Individuen im Nationalstaat als Gleiche empfinden. Die Analogie zwischen Einzelnen und Nationalstaaten ist keineswegs hergeholt. Tatsächlich hat sich der Gedanke, dass die Nationen trotz aller Unterschiede „gleich“ seien, in der Ideengeschichte aus der älteren Konstruktion entwickelt, dass die Individuen einander „gleich“ seien.
Immanuel Kant beginnt in seinem „Ewigen Frieden“ den zentralen (zweiten) Artikel mit dem Satz: „Völker als Staaten können wie einzelne Menschen beurteilt werden, die sich in ihrem Naturzustande schon durch ihr Nebeneinandersein lädieren und deren jeder um seiner Sicherheit willen von dem andern fordern kann und soll, mit ihm in eine der bürgerlichen ähnlichen Verfassung zu treten, wo jedem sein Recht gesichert werden kann.“ Norbert Elias, der sich mit dem Prozess der Gewaltmonopolisierung auf beiden Ebenen befasst hat, meinte sogar, dass es sich nicht nur um eine Analogie, sondern um eine einzige große Entwicklungskurve handele.
Es ist also zulässig, von der Gleichheit der Individuen im Nationalstaat Rückschlüsse auf die Gleichheit der Staaten in der Weltgemeinschaft zu ziehen. Dann tritt aber auch der entscheidende Unterschied vor Augen: Das Gesetz, unter dem die Völker als Gleiche stehen – die UN-Charta – ist ein Gesetz, dem die durchführende Gewalt fehlt. Es gibt auf internationaler Ebene keine Exekutive, mit anderen Worten, keine Polizei. Die Völker befinden sich noch im Naturzustand. Sie haben noch keinen „Gesellschaftsvertrag“ geschlossen, durch den sie das Recht und die Möglichkeit legitimer Gewaltanwendung einer zentralen Instanz reserviert haben.
Die UN-Charta kann, anders als die nationalen Gesetze, keine faktische Drohgewalt entfalten – jedenfalls nicht gegen die Starken, atomar Bewaffneten. Die UN müssen ihre Beschlüsse mithilfe der Armeen der Großmächte durchsetzen; infolgedessen sind sie diesen Großmächten selbst gegenüber machtlos. Zumal gegenüber der Einzigen Supermacht (die das Angriffskriegsverbot so eklatant verletzt) haben die Vereinten Nationen keine Handhabe. Diese Supermacht kann sich von der UN weder bedroht noch geschützt fühlen und ihr infolgedessen auch keinen Gehorsam leisten. Das Gesetz, das die Vereinten Nationen aufgerichtet haben, ist nudum ius, „nacktes Recht“. Es ist nur ein Vertrag – ein Versprechen, von dem man schon oft genug gesehen hat, dass es nicht eingehalten wird. Wenn es Knall auf Fall kommt, steht die Gleichheit der Staaten nur auf dem Papier. Die allgemeine Entwaffnung und Zentralisierung der Gewalt, die die Voraussetzung der Gleichheit ist, liegt noch in weiter Ferne. Sie wird noch nicht einmal angestrebt – weder von den Gegnern der Einzigen Supermacht noch von dieser selbst.
Die Einsicht, dass der Gleichheitsgrundsatz den Zustand der Gewaltmonopolisierung voraussetzt, ist enttäuschend und wird selten laut vorgetragen. Aber sie ist doch ein Allgemeinplatz in der Staatstheorie. Hannah Arendt erinnerte in diesem Zusammenhang an einen antiken Imperator, der zur Erläuterung, auf welche Weise er regieren wolle, mit seinem Schwert die am Wege liegenden Getreidehalme auf dieselbe Höhe schlug. Alexander Rüstow nahm die Illusionen über den Charakter der Gleichheit, als er sagte: „Gleichheit ist praktisch nur als Untertanengleichheit durchführbar.“
Betrachten wir die Position des Iran in dieser Konstellation. Sein Anspruch, gegenüber anderen atomar bewaffneten Staaten nicht diskriminiert zu werden, ist zwar formal berechtigt. Versteht man die Gleichheit aber als Ergebnis der allgemeinen Unterwerfung unter ein gemeinsames Gewaltmonopol, so zeigt sich, dass die Gleichheit der Staaten erst hergestellt wird, wenn die tatsächlichen Kräfteverhältnisse durch die allgemeine Entwaffnung zum Ausgleich gebracht sind. Es gibt deshalb kein „gleiches Recht auf gleiche Waffen“; im Gegenteil setzt Gleichheit allgemeine Waffenlosigkeit voraus.
Diese Überlegungen führen zu dem Paradoxon, dass gerade um der Staatengleichheit willen der Iran – genau wie jeder andere Staat – seiner Atomwaffen beraubt werden muss und nur noch eine einzige Instanz, hieße sie UN oder USA, über Waffenvernichtungsmittel verfügen darf. Erst dann kann von Staatengleichheit die Rede sein.
Sollte der geschichtliche Prozess – analog zu der Entwicklung der Nationalstaaten – tatsächlich einmal zur Gründung eines solchen Welt-Gewaltmonopols führen, so wird man den derzeitigen Kampf zwischen den USA und dem Iran als unvermeidliche Stufe dieses schmerzhaften Prozesses ansehen. SIBYLLE TÖNNIES